# taz.de -- Filmstart "¡Vivan Las Antipodas!": Aufgehoben sein im Allgemeinen | |
> So lakonisch wie ein Gespräch über das Wetter filmt Viktor Kossakovsky | |
> Landschaften. Gleich acht davon werden in "¡Vivan las Antipodas!" | |
> gezeigt. | |
Bild: Der Condor kreist gemächlich über einer Andenlandschaft. | |
"Im nächsten Leben will ich Wasser sein", sagt ein russisches Mädchen in | |
der einsamen Landschaft am sibirischen Baikalsee. Ein seltsamer Gedanke, | |
der aber gut in Viktor Kossakovskys Dokumentarfilm "¡Vivan Las Antipodas" | |
passt, denn dieser sucht im Wasser nach festen Grundlagen. | |
Inspiriert von Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" hat er acht Punkte auf | |
dieser Erde ausgesucht, die einander antipodisch gegenüberliegen. Das ist | |
gar nicht so leicht, denn es gibt ja viel mehr Wasser als Landflächen auf | |
diesem Planeten, deswegen liegen die meisten Antipoden im Meer, und von | |
denen, die erreichbar sind, befinden sich nicht wenige in dünn besiedelten | |
Gebieten. | |
Zum Beispiel eben am Baikalsee oder in Patagonien, in Neuseeland oder in | |
Botswana. Das Maß an Willkür, das Kossakovskys Programm enthält, ist durch | |
eine alte dokumentarische Prämisse gerechtfertigt: Ein Film kann gleich vor | |
der Haustür beginnen (das hat er mit "Russland von meinem Fenster aus", | |
2003, auch schon gemacht), oder aber in der größten erdenklichen Ferne. | |
Das hat er nun mit "¡Vivan las Antipodas" gemacht, und dabei ist ein höchst | |
eigenwilliges, faszinierendes Werk entstanden, das die stark | |
konventionalisierte Form der Naturdokumentation erneuert und mit der | |
Lakonik verbindet, mit der Menschen über das Wetter, also das Unabwendbare, | |
reden: "Ganz schön kalt." "Ja, wirklich kalt heute." | |
## Dialoge als Gesprächsfetzen | |
Zwei Männer, die im argentinischen Entre Ríos an einer Behelfsbrücke | |
gelegentlich Maut erheben, zählen zu den Protagonisten, ebenso eine Mutter | |
am Baikalsee, deren Tochter für eine Weile aus der Schule in das abgelegene | |
Häuschen in der kargen Landschaft zurückgekehrt ist. Mehr ist kaum zu | |
erfahren, denn Kossakovsky geht es nicht um Figuren, deswegen sind auch die | |
Dialoge allenfalls Fetzen eines Gesprächs über das Aufgehen im Allgemeinen, | |
das in dem Wunsch einer Wiedergeburt "als Wasser" einen Höhepunkt erreicht. | |
Denn dahinter steckt, wie immer bewusst begriffen, der Wunsch, alles zu | |
werden. Und etwas von diesem Wunsch beseelt ist wohl auch Kossakovsky, der | |
in Hawaii eingehend in die lebendige Lava starrt, in China den Menschen | |
zusieht, die auf ihren abenteuerlich bepackten Zweirädern ihren Geschäften | |
entgegenfahren, oder einfach minutenlang einen Vogelflug verfolgt. | |
## Vermessene und reizvolle Selbstermächtigung | |
Viele dieser Szenen sind mit Musik unterlegt, wodurch sie etwas | |
Theatralisches bekommen, allerdings in einem ganz bestimmten Sinn: Es ist | |
ein wenig, als hätte jemand Christoph Marthaler mit einer Verfilmung der | |
Welt beauftragt. Viktor Kossakovsky handelt in eigenem Auftrag, und gerade | |
das Vermessene an "¡Vivan las Antipodas" macht viel von dem Reiz aus. | |
Die Musik wirkt auch gar nicht so, als wäre sie hinzugefügt worden, im | |
Gegenteil. Man könnte den Eindruck gewinnen, Kossakovkys Kamera wäre so | |
etwas wie eine Plattennadel, ein Abtastgerät, das Bilder und Töne in | |
originären Verbindungen hervorbringt. | |
Der gemächliche Salto (wenn es denn so etwas gibt) ist die rhetorische | |
Figur von "¡Vivan las Antipodas". Den Gedanken, dass wir am (für uns) | |
anderen Ende der Erde erst einmal auf dem Kopf stehen würden, nimmt | |
Kossakovsky ganz wörtlich. | |
Er fabriziert so ganz wundersame Effekte von Desorientierung, einen | |
leichten Schwindel, der beiläufig auf die schwer kommensurablen Tatsachen | |
verweist: dass wir hier auf einer relativ kleinen Kugel durch das Weltall | |
fliegen. Damit hat es sich aber auch schon mit den Implikationen, das | |
Erhabene, auf das so viele Naturdokumentationen direkt lossteuern (aber | |
auch Terrence Malicks "The Tree of Life", an den man hier wohl auch denken | |
muss), liegt bei Kossakovsky immer höchstens gerade um die Ecke (oder den | |
nächsten Achsensprung). | |
## Moment bloßen Sehens | |
In "¡Vivan las Antipodas" ist etwas verwirklicht von dem, was am Medium | |
Kino immer uneingelöst blieb, weil schon bald Dramaturgien und | |
Konstruktionen wichtiger wurden als die Erforschung des Erdenrunds mit der | |
Kamera. | |
Was zum Beispiel die Imax-Filme kaum zu ertragen scheinen, nämlich auch nur | |
ein paar Momente bloßen Hörens und Sehens, dafür findet Kossakovsky mit | |
seiner willkürlichen Prämisse von den "Antipathien" (so nennt Alice bei | |
Carroll die Antipoden) eine sehr angemessene Form. | |
Er zeigt eine Welt, die grundsätzlich aus dem Lot ist, weil das Lot eine | |
Anthropozentrik ist, über die er in "¡Vivan las Antipodas" weit hinausgeht. | |
Das "in extremis" des Lebens an abgelegenen Orten bricht sich im "in | |
intimis" eines natürlichen Zusammenhangs, der nichts von Ökosentimentalität | |
hat, sondern von der Aufhebung in ein größeres Ganzes. | |
22 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Bert Rebhandl | |
## TAGS | |
Baikalsee | |
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