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# taz.de -- Film „Der Schnee am Kilimandscharo“: „Das Leben hat eine gewi…
> Um das Dilemma der Werftarbeiter von Marseille geht es im Film „Der
> Schnee am Kilimandscharo“. Regisseur Guédiguian über Drecksarbeit und das
> Glück eines Sonntags am Strand.
Bild: Glück im Unglück: Michel (Jean-Pierre Darroussin) und Marie-Claire (Ari…
taz: Herr Guédiguian, in der Eröffnungssequenz von „Der Schnee am
Kilimandscharo“ sehen wir, wie 20 Werftarbeiter entlassen werden. Die
Auswahl wird per Lotterieverfahren von der Gewerkschaft besorgt. Warum?
Robert Guédiguian: In den letzten vier, fünf Jahren ist es oft vorgekommen,
dass Unternehmen, denen es nicht gut ging, den Gewerkschaften vorgeschlagen
haben, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Das war eine Art Erpressung,
denn man sagte: „Also, wenn wir die Löhne nicht senken oder wenn ihr nicht
45 statt 35 Stunden arbeitet, dann müssen wir leider schließen.“ Die
Unternehmensführungen neigen dazu, sich von allem, woran man sich die
Finger schmutzig machen kann, fernzuhalten. Und dann müssen die Arbeiter
selbst die Drecksarbeit verrichten.
Für Ihren Film ist das beinahe eine tragische Ausgangssituation.
O ja, fürchterlich.
Die Hauptfigur Michel ist einer der Gewerkschafter, die die Entlassung
organisieren, und er ist selbst unter den Entlassenen, obwohl er sich davor
hätte schützen können. Als er seiner Frau sagt, dass er arbeitslos geworden
ist, sagt sie: „Es ist nicht immer leicht, mit einem Helden verheiratet zu
sein.“ Wie sehen Sie diese Figur?
Meine Absicht war, den Film mit einem Kreis, der auseinanderbricht,
beginnen zu lassen. Am Anfang sind die Arbeiter noch einmal versammelt, die
Lotterie bringt sie ein letztes Mal als Gruppe zusammen, bevor die einen
dann in diese und die anderen in jene Richtung gehen. Das ist wie ein
Gleichnis für den gesamten Film. Und was den Satz von Michels Frau angeht –
sie sagt das mit einer gewissen Ironie, aber es stimmt ja trotzdem: Michel
ist sehr ernsthaft, er sieht sich als jemand, der für Gerechtigkeit
eintritt, als Held, ein bisschen wie der Rächer in dem Comic, der eine
Rolle im Film spielt. Und es kann ganz schön anstrengend sein, mit jemandem
zusammenzuleben, der die ganze Zeit vorbildlich sein will.
In der ersten Sequenz gibt es eine Gruppe, später sieht man zwar auch noch
Gruppen – die Familie, den Freundeskreis, eine Festgesellschaft, aber in
den Vordergrund tritt das Individuum, das sich auf eigene Faust
durchschlägt.
Es geht ja im Film darum, dass das Kollektiv nicht mehr möglich ist. Am
Ende schlägt der Film deshalb eine individuelle Geste vor, fast so, als
würde er einen Übergang von der Politik zur Moral vollziehen. Ich glaube,
dass diese individuelle Geste – die Adoption zweier Kinder – sich in eine
politische Geste verwandeln kann, weil sie so vorbildlich ist. Zumal sich
am Ende abzeichnet, dass die Gruppe wieder existieren kann: Die Freunde
kehren zurück, die übrigen Familienmitglieder irgendwann auch. Der Kreis,
der am Anfang zerstört wurde, schließt sich am Ende des Films dank dieser
moralischen Geste. Das Politische mag ins Moralische übergehen, aber es
führt auch ein Weg zurück zum Politischen.
Was Sie als moralische Geste beschreiben – Michel und seine Frau
Marie-Claire adoptieren die kleinen Brüder des jungen Mannes, der sie
brutal überfallen hat –, ist ja ein Akt von fast unwahrscheinlicher Güte.
Wie im Märchen, nicht wahr?
Ja, es ist nicht weit entfernt vom Märchen, aber es könnte auch wahr sein.
Ich wurde oft gefragt, ob es Leute gibt, die so etwas tun. Ich denke schon,
sonst hätte ich den Untertitel „Ein Märchen von Robert Guédiguian“ gewä…
wie ich das bei anderen Filmen schon getan habe, „Conte de l’Estaque“ zum
Beispiel.
Einer der Helden der Hauptfigur ist ein französischer Sozialist, Jean
Jaurès. Wer genau war das?
In Frankreich war Jaurès sehr wichtig, so wie Rosa Luxemburg in
Deutschland. Er war ein Zeitgenosse von ihr, die beiden kannten sich. Er
hat sehr viel geschrieben, denn er war nicht nur Politiker, sondern auch
Philosoph. Er schrieb wirklich ausgezeichnet, vor allem Reden, und wie so
viele große französische Redner kam er aus Toulouse, er hielt seine Reden
mit einem starken Akzent, in diesem starken, provenzalischen Französisch.
Eine der Reden heißt „Rede an die Jugend von Albi“. Er erklärt darin, was
Mut ist, und geht dabei sehr dialektisch vor, da er das Individuum und das
Kollektiv miteinander in Beziehung setzt, und zwar im Hinblick auf alles,
auf das Sozialleben, das individuelle Leben, den Tod und die Krankheit, die
Liebesbeziehungen. Der bekannteste und noch heute gern von Politikern
zitierte Satz lautet: Mut heißt, die Wirklichkeit zu verstehen und von dort
aus zum Ideal zu streben. In den zwei entgegengesetzten Begriffen haben Sie
erneut die Dialektik.
Und warum ist Jaurès für Ihren Helden Michel so wichtig?
Weil ich mir dachte, dass es gut wäre, Michels Standpunkte unter die Ägide
des historischen Augenblicks zu stellen, in dem das alles begonnen hat,
unter die Ägide der Theorien des 19. Jahrhunderts. Als Victor Hugo das
Gedicht „Les pauvres gens“ (Die armen Leute) schrieb, war das der Moment,
in dem sich die Arbeiterklasse gründete. Ich dachte mir: Lass uns zu den
Grundlagen zurückkehren, zu den Anfängen, zu Victor Hugo und Jean Jaurès.
Was ist denn die Arbeiterklasse heute?
Ja eben: Man kann sie nicht mehr so bestimmen wie früher. Sie ist weniger
sichtbar, sie hat ihre Erscheinung verändert. Sie trägt Sakko und weißes
Hemd, sie sieht aus wie Sie oder ich. Die Arbeiterklasse heute, das sind
die Angestellten von France Télécom, Leute, die den gesetzlichen
Mindestlohn verdienen oder Zeitarbeitsverträge haben.
Der Film verhandelt solche Fragen, ohne in Tristesse zu versinken. Auf die
erste Sequenz, die Entlassung, folgen mehrere heitere, lichte Szenen, ein
Familienausflug an den Strand, eine kleine Party mit Tanz …
Ja, es ist wie in dem Lied von Charles Aznavour: Das Elend ist weniger
trist, wenn die Sonne scheint. Aber es stimmt, ich dachte, es sei nötig,
dieses Glück zu zeigen. Was die Generation von Michel und Marie-Claire
anbelangt, so hatte sie ja, dadurch, dass es Arbeit gab, immer die
Möglichkeit, einen Sonntag am Strand zu verbringen oder einen Grillabend
mit Freunden zu veranstalten. Das Leben hatte für sie eine gewisse Süße.
Die Arbeitslosigkeit existierte für diese Generation nicht. Und auch für
die Jüngeren, die wenig Geld haben, ist ein Sonnenuntergang am Meer etwas
Schönes – und er kostet schließlich wenig. Man braucht genug für ein
Picknick, für die Handtücher, für die Decken. Wenn man das nicht hat, dann
kann man nicht mal an den Strand gehen. In den Augen von Christoph …
… einem jungen Mann, der in der ersten Sequenz zu den Entlassenen zählt …
… wirkt der Strandausflug wie etwas, was reiche Leute tun. Christoph sagt
sich: Das sind bourgeoise Leute. Dabei liegt der Strand nah an den
Industrie- und Hafenanlagen. Das ist ja nicht die Côte d’Azur.
15 Mar 2012
## AUTOREN
Cristina Nord
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