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# taz.de -- „Etwas Wildnis muss möglich sein“
> UMWELT Auf zwei Prozent der städtischen Grünflächen sollte man die Natur
> tatsächlich Natur sein lassen, fordert Ulrich Stöcker von der Deutschen
> Umwelthilfe. Er hält es auch für wichtig, Interessierten vor Ort Wissen
> über Pflanzen und Tiere zu vermitteln
Bild: Mein Nachbar, das Wildschwein: Die Wildnis bricht immer wieder ins urbane…
INTERVIEW Claudius Prößer
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hat gerade die Broschüre „Perspektiven für
Wildnis in der Stadt“ vorgelegt. Dafür begleitete sie über einen Zeitraum
von zwei Jahren Naturprojekte in vier deutschen Städten – Berlin, Leipzig,
Gelsenkirchen und Arnsberg an der Ruhr und beriet die jeweiligen kommunalen
Träger. Die Broschüre soll darüber aufklären, wie Städte wilde Flächen
schaffen und in der Bevölkerung Interesse daran wecken können.
taz: Herr Stöcker, Wildnis ist schön und gut. Aber wozu brauchen wir die
ausgerechnet in der Stadt?
Ulrich Stöcker: Die meisten Menschen wohnen in Städten, in Deutschland sind
es mehr als 75 Prozent. Und genau diese Stadtbevölkerung hat eine große
Sehnsucht nach Wildnis, sie setzt sich sehr stark für den Naturschutz ein
und artikuliert ihr Bedürfnis nach Grün.
Dagegen spricht ja schon das Wachstum einer Stadt wie Berlin. Nicht nur der
Verwertungsdruck steigt, mehr Bewohner brauchen auch mehr Erholungsflächen.
Können wir uns da Wildnis leisten?
Wir meinen, dass man sie in gewissen Anteilen schon ermöglichen sollte. Es
muss in jeder Stadt möglich sein, auf zwei Prozent ihrer Grünflächen die
Natur Natur sein zu lassen. Das ist ja nicht viel. Aber solche Orten bieten
die Möglichkeit, dass Bürger ihre ersten Erfahrungen mit unbeeinflusster
Natur machen. Gerade in prekären Wohnlagen leben Menschen oft sehr weit weg
vom nächsten Stadtgrün, und auch dabei handelt es sich sehr oft nur um
kurzgeschorene Rasenflächen. Wohlgemerkt, in Berlin gibt es da schon gute
Ansätze.
Etwas Wilderes als kurzen Rasen wünschen sich heute sicher viele. Aber gibt
es nicht eher eine Sehnsucht nach Naturformen, die den Menschen
einbeziehen? Ich denke jetzt an den Boom des Urban Gardening.
Das ist ja auch ganz wichtig. Urbane Gärten zeigen auf, was auf kleinstem
Raum und sogar auf Dächern möglich ist – gerade vor dem Hintergrund, dass
innerstädtische Flächen auch zur Bebauung genutzt werden müssen, wenn man
mit dem Wachstum nicht nur das Umland belasten will. Trotzdem lässt sich an
vielen Stellen auch eine wildere Stadtnatur realisieren.
Wie „wild“ kann Natur im städtischen Kontext überhaupt sein?
Da ist ganz viel möglich, und in Berlin gibt es wunderbare Beispiele. Das
Schöneberger Südgelände, ein in den fünfziger Jahren aufgegebener
Rangierbahnhof, ist ein Modellprojekt mit deutschlandweiter Ausstrahlung.
Wildnis im ursprünglichen Sinn ist so etwas natürlich nie, aber eben ein
Ort mit weitgehend naturnaher Entwicklung. Ganz wichtig war, dass man den
Stadtbewohnern den Zugang eröffnet hat, über ein System gelenkter Pfade und
in Kombination mit Kunst. Eine heilbringende Symbiose, finde ich, denn die
Natur wirkt dadurch zum Teil noch stärker.
Apropos Südgelände: Ist es nicht paradox, dass ausgerechnet Flächen für den
Naturschutz besonders wertvoll sind, von denen die Natur zunächst einmal
radikal verdrängt wurde?
Das ist tatsächlich so, auch in zweien unserer Modellstädte: Gelsenkirchen
mit der ehemaligen Zeche Hugo und Leipzig mit dem „Grünen Bogen Paunsdorf“.
Aber ebenso gibt es wertvolle Flächen, auf denen alte Stadtnatur vorhanden
ist – wie die Ruhr, die in Arnsberg zu einem wilden Fluss zurückentwickelt
wurde. Oder eben die Tiefwerder-Wiesen in Spandau. Die sind ein Teil des
uralten Mündungsbereichs der Spree in die Havel. Außer das man dort
Wasserbüffel grasen lässt, womit Landschaftspflege betrieben wird, finden
dort jetzt kaum noch menschliche Eingriffe statt. Das kann man auch noch
weiterentwickeln. Beispielsweise sind die Tiere im Winter nicht auf den
Flächen, dabei ist gerade in der kalten Jahreszeit der Verbiss entscheidend
für die Entwicklung der Vegetation.
Rinder auf die Wiesen zu schicken ist aber doch noch ein ziemlicher
Eingriff.
Der Einwand ist berechtigt. Aber die Frage ist auch, wie diese Flächen
früher aussahen. Auch vor der menschlichen Besiedlung war nicht alles Wald
in Deutschland und Mitteleuropa. Gerade in Flussniederungen gab es viele
offene Flächen, die durch Tiere wie die heute ausgestorbenen Auerochsen
oder Wildpferde beweidet wurden. Natürlich ist es ein Kompromiss, wenn die
Landschaftspflege mit Haustieren betrieben wird.
Warum haben Sie gerade die Tiefwerder-Wiesen ausgewählt?
Es gibt inzwischen über ein Dutzend Beweidungsprojekte in Berlin. Wir haben
uns eines herausgesucht, bei dem der Bezirk nicht nur aktiv eine Fläche
wieder der Natur zuführt, sondern ihr auch den Status eines
Naturschutzgebiets verleihen will. Es war eine Bedingung für unsere
Modellstädte, dass die Nichtnutzung dauerhaft angelegt ist und für
Jahrzehnte Bestand haben kann.
Die Natur sich selbst zu überlassen bedeutet im Zweifel, dass man invasiven
Arten wie etwa dem Staudenknöterich oder der Goldrute das Feld überlässt.
Die breiten sich rasant aus und sind kaum einzudämmen.
Richtig, das ist ein generelles Problem im Naturschutzvollzug. Wir
vertreten da keine dogmatische Position und glauben, dass es in der
Stadtnatur Sinn hat, diese Arten weitestgehend beizubehalten. Bei
Beweidungsprojekten stellt sich das Problem auch oft gar nicht: Die
Spätblühende Traubenkirsche, eine sich stark ausbreitende nordamerikanische
Baumart, wird etwa von Wisenten abgefressen und verschwindet dort mit der
Zeit. Aber es gibt tatsächlich auch wertvolle Naturschutzgebiete, wo mit
Blick auf die vorkommenden Spezies solche invasiven Arten im Zaum gehalten
werden sollten.
Ein anderer Vorschlag aus dem Perspektivpapier sind Naturwaldparzellen –
also Waldflächen, wo nichts gepflanzt wird und Bäume einfach stehen
gelassen werden, wenn sie sterben.
Richtig. Totholz hat eine enorme Bedeutung als Lebensraum für Pilze und
Insekten bis hin zu Fledermäusen und Spechten.
Und diese Naturwaldparzellen gibt es in Berlin schon?
Die Waldbewirtschaftung in Berlin ist durchaus fortschrittlich. Die meisten
Flächen werden nach dem FSC-Standard bewirtschaftet, der auch nicht
genutzte Flächenanteile verlangt. Das ist noch nicht so deutlich sichtbar,
weil die meisten Berliner Forsten sehr jung sind. Der Grunewald etwa ist ja
erst nach dem Krieg entstanden. Aber wenn wir jetzt anfangen, alte Wälder
aufzubauen, ist das eine Investition in die Zukunft. Der ökologische Wert
steigt – und der Naturerfahrungswert durch ein vielfältiges Waldbild auch.
Sie betonen, wie wichtig der Aspekt der Umweltbildung im Zusammenhang mit
urbaner Wildnis ist. Was heißt das konkret?
Dass es neben selbstständiger Naturerfahrung auch Möglichkeiten gibt,
Interessierten vor Ort die Natur zu vermitteln. Umweltbildung kann
natürlich auch über Tafeln erreicht werden. In den Tiefwerder-Wiesen haben
wir welche mit zusätzlichem QR-Code angebracht. Dadurch sind die
Informationen mit dem Handy abrufbar und können auch ohne großen Aufwand
aktualisiert werden. Wir erwarten von all diesen Maßnahmen sozusagen einen
return on investment: Am Ende wird das Naturbewusstsein der Bürger steigen.
Mehr zum Thema urbane Wildnis unter [1][duh.de/stadtwildnis]
1 Dec 2016
## LINKS
[1] http://www.duh.de/stadtwildnis/
## AUTOREN
Claudius Prößer
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