| # taz.de -- Eine poetische Formel für die Welt | |
| > Lyrik Das Literaturforum im Brecht-Haus feiert in dieser Woche die | |
| > dänische Dichterin Inger Christensen, die neben Gedichten – die sie sang | |
| > – auch Romane, Essays, Hörspiele und Kinderbücher geschrieben hat | |
| Bild: Inger Christensen, die in ihrer Lyrik einer mathematischen Logik folgte | |
| von Julika Bickel | |
| Die dänische Schriftstellerin Inger Christensen saß vor einem leeren Blatt. | |
| Sie wusste nicht, was sie schreiben und ob sie überhaupt noch schreiben | |
| sollte. Es war eine Krise. Sie wollte eine Sprache, eine Art Code finden, | |
| um die Welt zu entschlüsseln, damit die Menschen sie besser lesen und | |
| verstehen können. Doch warum schreiben, so fragt sie in ihrem Essay „Der | |
| naive Leser“, wenn die Menschheit so aussieht, als sehnte sie sich nicht | |
| danach zu lesen, sondern danach, sich über die Grenze hinwegzuwerfen, in | |
| die große Unlesbarkeit hinein? | |
| Sie begann Wörter zu sammeln und sie auf Zettel zu schreiben. Es waren | |
| meist Substantive, die etwas Konkretes beschreiben wie Aprikosenbäume oder | |
| Wasserstoff. Schließlich sortierte Christensen die Wörter nach dem | |
| Alphabet. Die Anzahl der Zeilen pro Anfangsbuchstabe bestimmte sie nach | |
| einer mathematischen Regel, der Fibonacci-Folge, bei der sich jede Zahl der | |
| Reihe aus der Summe der beiden vorangehenden Zahlen errechnet: 0, 1, 1, 2, | |
| 3, 5, 8, 13, die Zahlen wachsen schnell. Es entstand eine lange Aufzählung | |
| von Dingen, die es gibt. „Dadurch gelang es mir ein Gedicht zu schreiben, | |
| das verhältnismäßig lesbar ist, es vielleicht aber am meisten dadurch ist, | |
| daß es auf die gemeinsame Unlesbarkeit hinweist“, so Christensen. Bei dem | |
| Buchstaben N mit 610 Zeilen hörte sie jedoch auf. | |
| Das Gedicht „alphabet“ erschien 1981 auf Dänisch, der Verleger Josef | |
| Kleinheinrich veröffentlichte es 1988 auf Deutsch. Durch ihn und den | |
| Übersetzer Hanns Grössel wurde Inger Christensen, die 2009 im Alter von 73 | |
| Jahren starb, im deutschsprachigen Raum bekannt. Stets galt sie als | |
| Kandidatin für den Nobelpreis, bekommen hat sie ihn letztlich nicht. Nun | |
| ehrt Carola Opitz-Wiemers die Schriftstellerin mit einer Themenwoche im | |
| Literaturforum im Brecht-Haus. Jeden Abend findet in dem Raum mit | |
| Fensterfront zur Chausseestraße eine Lesung oder ein Gespräch mit | |
| befreundeten Lyrikern, Übersetzern, Verlegern und Weggefährten von | |
| Christensen statt. Am Montag eröffnete Opitz-Wiemers die | |
| Inger-Christensen-Woche mit einem Gespräch mit Josef Kleinheinrich. | |
| Zwischendurch zeigte sie Ausschnitte aus dem Film „Inger Christensen – | |
| cikaderne findes“ von Jytte Rex. | |
| Die Fragen an Kleinheinrich hätten teilweise noch präziser sein, das | |
| Gespräch hätte noch mehr an Tiefe gewinnen können. Insgesamt bot die | |
| Veranstaltung eine gelungene Einführung. Christensens Poetik folgt | |
| mathematischen und kompositorischen Ordnungsmodellen. Im 460 Seiten langen | |
| Gedicht „Das“ spielte sie mit der Zahl 8 und grammatischen Wiederholungen. | |
| Im Gedichtband „Brief im April“ wendet sie die „Symmetrische Permutation�… | |
| an, ein Kompositionsprinzip aus der Musik. Christensen ist vor allem als | |
| Lyrikerin bekannt, verfasste aber auch Essays, Romane, Hörspiele und | |
| Kinderbücher. Kleinheinrich erzählt, wie er nach „alphabet“ ein Jahr spä… | |
| die Erzählung „Das gemalte Zimmer“ veröffentlichte und mit den 1.000 | |
| Vorbestellungen kaum nachkam. Die dreiteilige Geschichte erzählt vom | |
| Mantuaner Fürstenhof Lodovico Gonzagas im Italien des 15. Jahrhunderts. | |
| Heute sind die meisten von Christensens Büchern beim Kleinheinrich-Verlag | |
| vergriffen. Das „alphabet“ will der Verlag demnächst neu auflegen – mit | |
| vierzehn Radierungen zu vierzehn Buchstaben. | |
| In einer Filmsequenz erzählt Inger Christensen vom Ort Vejle an der | |
| abgelegenen Ostseeküste von Jütland, wo sie aufwuchs. Als Kind glaubte sie, | |
| dass die Welt hinter einem Getreidefeld aufhörte. Sie überschritt diese | |
| Grenze, das geglaubte Ende, als sie 1962 nach Kopenhagen zog. Das Denken | |
| und Schreiben in Systemen half ihr, aus ihrer eigenen Welt herauszutreten | |
| und die subjektive Sichtweise zu verlassen. Diese Distanz, so | |
| Opitz-Wiemers, sei wichtig für sie gewesen, um eine Idee zu entwickeln. | |
| „Wenn ich Gedichte schreibe, dann kann es mir einfallen, so zu tun, als | |
| schriebe nicht ich, sondern die Sprache selbst“, sagt Christensen. | |
| All ihre Texte lassen sich flüssig und leicht lesen. Sprache soll einen | |
| Zugang bieten, „eine Abkürzung für die Lesbarkeit der Welt“, so | |
| Christensen. Der Dichter Thomas Kling nannte ihren Schreibstil | |
| „schnörkellos“. Ein Rest Geheimnis bleibt jedoch. Christensen liebe das | |
| Labyrinthische, das Unendliche, sagt Opitz-Wiemers. In ihren Gedichten | |
| entwickelt sie einen Rhythmus, der an Tempo gewinnt. Inger Christensen trug | |
| ihre Gedichte meist gesanglich vor. Im letzten Filmausschnitt hören die | |
| BesucherInnen sie, wie sie ihr „Gedicht vom Tod“ singt. Melancholisch und | |
| sanft klingt sie. Dann liest Christensen in perfekter Aussprache das | |
| reimlose Gedicht auf Deutsch: „Nichts ist geschehn / tagelang sitze ich / | |
| vorm Papier aber / nichts geschieht“. | |
| Inger-Christen-Woche, Literaturforum, Chausseestr. 125, noch bis 20. | |
| August, Programm unter www.lfbrecht.de | |
| 20 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Julika Bickel | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |