| # taz.de -- Ein Ausweg aus dem Sprachschicksal | |
| > Die amerikanische Autorin Jhumpa Lahiri erfindet sich radikal neu: Viele | |
| > Jahre lang lernte sie besessen Italienisch – auch um aus ihrer Herkunft | |
| > zu fliehen | |
| Von Katharina Granzin | |
| Die amerikanische indischstämmige Autorin Jhumpa Lahiri ist eine skrupulöse | |
| Beobachterin und Beschreiberin der Welt. Eine Genauigkeit des Empfindens, | |
| Sehens und Denkens ist ihrer Prosa eigen. Dieser auffällige Zug hängt mit | |
| dem Gefühl einer gewissen kulturellen Zerrissenheit zusammen: zwischen dem | |
| Amerika, in dem sie selbst aufwuchs, und der indischen Herkunft der Eltern; | |
| zwischen der Muttersprache Bengalisch, Lahiris einziger Sprache in den | |
| ersten vier Lebensjahren, und der englischen „Stiefmuttersprache“, wie sie | |
| es nennt, in der sie lesen und schreiben lernte. Auch die Figuren ihrer | |
| Geschichten kennen diesen Zustand. Ein Hauch von Sehnsucht durchzieht | |
| Lahiris Short Storys und Romane, aber auch eine fast schicksalhafte | |
| Unentrinnbarkeit, mit der die Protagonisten in ihren Familiengeschichten | |
| verhaftet sind. | |
| Die Autorin selbst hat für sich mittlerweile einen Ausweg aus dieser | |
| scheinbaren Schicksalhaftigkeit gefunden: eine dritte Sprache. Über viele | |
| Jahre hat sie (die einen Doktortitel im Fach „Renaissance Studies“ | |
| aufweisen kann) Italienisch gelernt – bis sie schließlich sogar in der Lage | |
| war, ein ganzes Buch auf Italienisch zu schreiben: „In anderen Worten. Wie | |
| ich mich ins Italienische verliebte“ erzählt die Geschichte einer langen | |
| linguistischen Reise. In den neunziger Jahren begann Jhumpa Lahiri damit, | |
| gewissenhaft Wortlisten anzulegen, Privatlehrerinnen zu engagieren. Vor ein | |
| paar Jahren schließlich wagte sie den ganz großen Sprung: Mit Mann und | |
| Kindern zog sie nach Rom. „Zur Vorbereitung beschließe ich sechs Monate vor | |
| der Abfahrt, nichts mehr auf Englisch zu lesen“, schreibt Lahiri. „Von nun | |
| an nur noch Italienisch.“ | |
| Diese Hingabe ist ein bisschen unheimlich. Und warum genau soll es | |
| interessant sein, die sprachliche Selbstvergewisserung einer Besessenen zu | |
| lesen? Anders als in ihrer fiktionalen Literatur schreibt Lahiri in „Mit | |
| anderen Worten“ nur über sich. Nichts ist erfunden, vieles weggelassen. Nur | |
| der Kern des Plots „Wie ich mich ins Italienische verliebte“ ist übrig, | |
| plus zwei Kurzgeschichten, die Lahiri ebenfalls auf Italienisch schrieb. | |
| Manchmal finden sich im Text akribische Auflistungen von Wörtern, die ihr | |
| in der Drittsprache Schwierigkeiten bereiten. Die Autorin erläutert ihre | |
| Verwirrung über die Aspekte der italienischen Verbformen und verschweigt | |
| nicht, dass sie sich in ihrem römischen Alltag oft gekränkt fühlt, wenn sie | |
| ihres unitalienischen Äußeren wegen auf Englisch angesprochen, ihr | |
| amerikanischer Mann dagegen für einen Italiener gehalten wird. Das | |
| allerdings ist schon das Äußerste an autobiografischem Familientratsch. | |
| Welche Umstände der Familie die Übersiedlung möglich machen; wie ihr Alltag | |
| aussieht; wo die Kinder zur Schule gehen oder der Gatte arbeitet: Nichts | |
| davon spielt eine Rolle. Es ist Jhumpa Lahiri kein Bedürfnis, von ihrem | |
| Leben zu erzählen. Ihr geht es um einen einzigen, exemplarischen Aspekt | |
| davon: das Verhältnis des (schreibenden) Menschen zur Sprache. Wie hängen | |
| Sprache und Identität zusammen? Was bedeutet es, in einer Sprache zu Hause | |
| zu sein? Ändert sich die Art des Denkens, wenn man in einer anderen Sprache | |
| schreibt? Und woher kam in ihr selbst dieser tiefe Wunsch, sich das | |
| Italienische anzueignen? Dazu schreibt Lahiri: „Ich glaube, Italienisch zu | |
| lernen war eine Flucht vor dem anhaltenden Widerstreit des Englischen und | |
| des Bengalischen in meinem Leben. Eine Zurückweisung von Mutter- und | |
| Stiefmuttersprache. Ein unabhängiger Weg.“ | |
| Indem sie ihrem Bedürfnis nach bedingungsloser Liebe zu einer neuen Sprache | |
| einerseits nachgibt, sich andererseits bei ihren linguistischen Bemühungen | |
| genau beobachtet und damit schreibend zu ihrem eigenen Forschungsgegenstand | |
| macht, hat Jhumpa Lahiri eine Art verdichtetes psycholinguistisches | |
| Selbstporträt entworfen, das aber wegen der sachlichen Genauigkeit seiner | |
| Beobachtung schon wieder universelle Gültigkeit anstrebt. Was passiert mit | |
| uns, wenn wir andere Sprachen lernen? Warum tun wir das? Und was | |
| unterscheidet den schreibenden vom sprechenden Menschen? Wer sich von | |
| solchen Fragestellungen angezogen fühlt, wird dieses Buch als inspirierende | |
| Lektüre empfinden. Ganz nebenbei lernt man auch das eine oder andere über | |
| das Italienische. | |
| 24 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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