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# taz.de -- Bewegungsunfähige Kinder: "Die können nichts mehr"
> Kinder bewegen sich schon. Mit dem Daumen auf der Playstation. Wen
> wunderts, dass auch dem Turnen der Nachwuchs wegbricht. Deshalb startet
> der Turnerbund eine Kampagne.
Bild: Turnen ist Hochleistung für die Motorik - und überfordert viele Kinder.
BERLIN taz "Die bewegen sich schon", sagt Angelika Lehmann, "und zwar so."
Ihr Daumen macht eine leichte Bewegung, so als würde sie eine Fernbedienung
betätigen. "Mehr machen die nicht." Angelika Lehmann macht eine wegwerfende
Handbewegung. Playstation und Fernseher seien schuld daran, dass Kinder
immer schlechter mit ihrem Körper umgehen könnten. 26 Jungen und Mädchen im
Vorschulalter stellen sich entlang einer Linie in der Turnhalle auf, in der
sie einmal in der Woche zum Training zusammenkommen, während die Leiterin
der Turnabteilung des Berliner Vereins Empor Köpenick über ihr Kita-Projekt
spricht. "Da kann man schon eine Entwicklung sehen", sagt sie. "Die wissen
wenigstens jetzt, wie man sich ordentlich aufstellt."
Mehr als zwei Jahre organisiert Angelika Lehmann nun schon die
Zusammenarbeit von Kindertagesstätten mit ihrem Verein. Ihr Klub stellt
einen Übungsleiter zur Verfügung, der einmal in der Woche mit den
Kindergartenkindern trainiert. Die Erzieherinnen des "Hauses der kleinen
Strolche" in Berlin-Köpenick bringen die Kleinen in die Turnhalle einer
benachbarten Schule. Dort werden sie von Franziska Gweckow trainiert. Seit
zwölf Jahren turnt sie mit Kindern, erzählt sie. Immer schlechter seien die
über die Jahre geworden. Beinahe übellaunig wird die strenge
Übungsleiterin, wenn sie über die Leistungsfähigkeit der Kinder von heute
spricht. "Ich muss die Übungen immer leichter machen", sagt sie. "Die
können nichts mehr. Die können nicht einmal mehr über eine Teppichfliese
rüberspringen." Plötzlich wirkt sie sehr kämpferisch. "Aber ich kriege
sie", sagt sie, "das ist mein Ehrgeiz."
Sie erzählt von Jasmin. Übergewichtig sei die gewesen, konnte nicht richtig
laufen, an Springen, ans Hüpfen gar auf einem Bein war nicht zu denken. An
die Eltern sei sie zunächst gar nicht rangekommen. "Die sind ein
Sozialfall", sagt Franziska Gweckow. Jetzt berichtet sie stolz, sei Jasmin
fit - zumindest für die Schuluntersuchung. Bei dieser wird auch getestet,
ob ein Kind auf einem Bein hüpfen kann.
"Wo hast du hingeschaut?", fragt Steffen Gödicke eine seiner Elevinnen. Die
hat sich gerade an einer Flugeinlage am Stufenbarren versucht. "Was hast du
gesehen?", will er von der kleinen 13-Jährigen wissen, die gerade nach
einem misslungenen Versuch in die mit Schaumstoffschnitzeln gefüllte Grube
unter dem Stufenbarren gefallen ist. "Ein bisschen mehr", sagt Gödicke,
Trainer in der Berliner Turntalentschule Maxi Gnauck, und macht eine
Handbewegung. Zusammen mit der Geste versteht die Turnerin den
unvollständigen Satz ihres Trainers. "Ich weiß schon", sagt sie. Darauf der
Trainer: "Dann mach auch." Gödicke sagt das ganz sanft. Als Trainer von
Leistungsturnerinnen muss er ein Pedant sein, ein General ist er nicht.
Während er die großen Mädchen am Stufenbarren betreut, rennen zehn
Achtjährige in ihren Gymnastikanzügen über die Bodenmatte, machen Rollen,
schlagen Räder. Auch sie benötigen keine lauten Kommandos. Sie wissen, was
ihre Trainerin von ihnen will. Katrin Kewitz betreut eine Gruppe von
Schulanfängerinnen in der doch arg in die Jahre gekommenen Frauenturnhalle
im Sportforum Hohenschönhausen im Norden Berlins, da, wo einst etliche
Turnerinnen der DDR-Riege ihre Techniken eingeübt haben. "Wir müssen die
Kinder ja auch bei der Stange halten", so Katrin Kewitz, die selbst
jahrelang Spitzenturnerin, immerhin deutsche Meisterin war. Viele Mädchen
streben nicht zum Geräteturnen. Als der Berliner Turnerbund am vergangenen
Wochenende zu einer Leistungsüberprüfung gerufen hat, trat in der
Altersklasse der Zehnjährigen nur ein einziges Mädchen an. Bei den
Sechsjährigen waren es immerhin noch 50.
"Turnen ist eben ein aufwändiger Sport", erklärt Steffen Gödicke. "Während
man beim Fußball vielleicht zehn Techniken lernen muss, sind es beim Turnen
1.000 - und das ist jetzt nicht übertrieben." Die Sechsjährigen trainieren
bis zu dreimal die Woche zwei bis drei Stunden. Die Siebenjährigen haben
schon eine viertägige Trainingswoche. Die drei 13-jährigen Mädchen, mit
denen Gödicke an diesem Tag trainiert, sind Internatsschülerinnen an der
Eliteschule des Sports gleich hinter der Trainingshalle. Die Vierte aus
dieser Trainingsgruppe kommt jeden Tag aus Charlottenburg. Ihre Eltern
fördern mit ihren Fahrdiensten die Leistungssportkarriere ihrer Tochter.
"Die kommt jetzt schon auf eine 70-Stunden-Woche", rechnet Trainer Gödicke
vor.
Ohne das Engagement, den Ehrgeiz der Eltern, gäbe es gar keinen Nachwuchs
bei den Leistungsturnerinnen. Die Turntalentschule Maxi Gnauck - die den
Namen der Berliner Olympiasiegerin, die 1980 in Moskau am Stufenbarren
triumphiert hat, trägt - ist angewiesen auf Eltern, die ihr Kind zur
Leistungssportlerin machen wollen, die ihre Tochter für agil und stabil
genug halten, die keine Angst vor der zerstörerischen Kraft des
Leistungsturnens haben. Nicht selten haben die Eltern selbst einmal
geturnt. Die kleine 13-Jährige, die nach ein paar vergeblichen Versuchen
endlich ihre Flugübung am Stufenbarren mit dem sicheren Griff an die Stange
beendet, heißt Nathalie Wecker. Ihr Vater, Andreas, war 1996 Olympiasieger
am Reck.
Steffen Gödicke würde vielen Eltern gerne die Angst vor dem Geräteturnen
nehmen. Für "medial aufgebauscht" hält er die Gefahren, die angeblich vom
Kunstturnen ausgingen. Wer in die Turntalentschule komme, so erklärt er,
bekomme erst einmal eine athletische Grundausbildung. "Erst wenn die Kraft
da ist, werden die schwierigen Übungen geturnt", sagt der Trainer. Die
Kinder werden frühzeitig untersucht. Speziell der Rücken wird gescannt. Es
soll ausgeschlossen werden, dass, wer einen Schaden an der Wirbelsäule hat,
regelrecht über die Schmerzgrenze hinaus trainiert wird. Dann sagt Gödicke:
"Durch das Krafttraining ist das Wachstum natürlich retardiert." Aber auch
das soll Eltern keine Angst machen. Wenn das harte Training aufhöre, "dann
wachsen die schon noch".
Von den vielen mitgliederstarken Turnvereinen der Stadt erwartet sich
Gödicke keinen Nachwuchs. Der Leistungssport ist völlig abgekoppelt von den
zahlreichen Kindersportangeboten in den Klubs. "Geräteturnen ist viel zu
teuer für einen Verein, wie wir einer sind", meint Angelika Lehmann, die
bei Empor Köpenick neben dem Kinderturnen vor allem Gesundheitssport
anbietet. Nur so könne der Klub überhaupt überleben, erklärt sie. "Wir sind
kein Dorfverein, in dem man ein Leben lang Mitglied ist."
Empor funktioniert wie viele Großstadtvereine der Republik als sportlicher
Dienstleister. Wer Mitglied wird, erwartet ein bestimmtes Angebot. Gibt es
das Angebot nicht mehr, endet meist auch die Mitgliedschaft. Auch die
Kinder, die sich gerade auf Teppichfliesen kniend durch die staubige
Schulturnhalle schieben, sind Mitglieder des SV Empor Köpenick. 5,50 Euro
kostet das jeden Monat. Nicht alle Eltern der Kindergartenkinder können
sich das leisten. Die Kita liegt nicht in einer der vornehmen Ecken
Berlins. Etwa fünf Kinder pro Gruppe werden vom Verein "mitgezogen", wie
Angelika Lehmann sagt. Für sie müssen die Eltern keinen Beitrag zahlen. So
werden sie wenigstens im Kindergartenalter ein wenig bewegt. Zu viele
"Sozialfälle" dürfen allerdings nicht in der Gruppe sein. Sonst kann die
Übungsleiterin nicht finanziert werden.
Die ist vor allem traurig, dass mit Schulanfang Schluss ist mit der
Förderung. "Wir können die Kinder nicht im Verein halten", sagt Franziska
Gweckow. Talentierte Kinder empfiehlt sie dem benachbarten
Leichtathletikverein, auch einmal einem Fußballklub. Für die meisten Kinder
jedoch endet die sportliche Freizeitbetätigung mit dem Schuleintritt.
Angelika Lehmann zeigt wieder ihren Daumen.
14 Dec 2007
## AUTOREN
Andreas Rüttenauer
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