# taz.de -- Belgische Besonderheiten: Die reine Wundertüte | |
> Das grenznahe Ostbelgien steckt voller Skurrilitäten. Die taz stellt | |
> einige besondere Highlights rund um die "Deutschsprachige Gemeinschaft" | |
> vor. | |
Bild: Der Hohe Venn und seine Nebelhüllen. | |
Wer weiß schon, dass Deutsch in Belgien offizielle Amtssprache ist. | |
Jedenfalls in Ostbelgien, einem schmalen Landstreifen rund um Eupen | |
zwischen der luxemburgischen Grenze und Aachen. Die "Deutschsprachige | |
Gemeinschaft", kurz DG, Teil der Wallonie, hat 72.000 Einwohner und ist ein | |
spezielles Stück Welt. Die taz stellt ein paar Highlights vor: | |
Babylon: In Ostbelgien kann man sich wunderbar mit der Aussprache vertun: | |
Wie spricht sich wohl der Ort Hauset aus? Osé? Falsch: Wie auch Kettenis | |
spricht er sich voll deutsch aus. Moresnet-Chapelle durchaus französisch, | |
aber nur die zweite Hälfte. Das Flüsschen Geule heißt mal Göhl und bei | |
Sippenaeken als Grenzfluss zu Holland halbseitig Geul. Die Menschen heißen | |
Jean-Marie Schmitz, Helga Delhaize oder Mathieu Grosch-Vermeulen. | |
Tuchmacherpracht: Eupen mit seinen 17.000 Einwohnern ist, anders als der | |
einst mondäne Badeort Spa etwas südlich, eine versteckte Pracht. In den | |
Innenhöfen der einstigen Tuchmacherresidenzen kann man den alten Reichtum | |
der Stadt erahnen. Ein Schriftsteller staunte 1796: "In Deutschland nennt | |
sich ein Fürst reich, wenn er 25.000 Taler sein eigen nennt. Damit ist ein | |
Kaufmann in Eupen arm. Dort haben manche eine Million Taler, fahren goldene | |
Kutschen und haben livrierte Diener." | |
Sümpfepralle Mystik: Das Hohe Venn, gut 30 Kilometer südlich von Aachen, | |
ist eine mystische Urlandschaft, 420 Quadratkilometer weit, neblig oft und | |
unwegsam, voll schwammiger Torfmoosteppiche. Eine nasse, extrem reduzierte | |
Welt, voller Schreckensgeschichten über Moorleichen, Morde und | |
Verzweiflung. Ausgangspunkt für Venn-Wanderungen ist der Weiler Baraque | |
Michel, wo die "Glocke der Verirrten" jahrhundertelang Menschen in nebliger | |
Not Orientierung und Rettung gab. 126 Fälle sind dokumentiert. | |
Herrliche Hässlichkeiten: Die Ostbelgier sind ein Volk von Heimwerkern, das | |
seine vollverklinkerten Häuschen über alles liebt. Viele Vorgärten, oft | |
schmal wie ein Handtuch, erinnern mit ihren gestutzten Buxbäumen und | |
manikürten Wacholderbusch-Ensembles fatal an deutsche Friedhöfe. Und alles, | |
was die Menschheit je an Werkstoffen erdacht hat, wird zum Briefkastenbau | |
genutzt. So entstand im weiten, saftigen Hügelland mit seinen alten | |
Steinbrücken und spätmittelalterlichen Wasserschlössern ein | |
Straßenbegleitmuseum mit monströsen Holz- oder Betonstatuen, umgebauten | |
Milchkannen und steinernen Schwanenleibern vor den Häusern. | |
Kunst mit Möhren: Im Örtchen Berlotte bei Raeren staunt man über den | |
"lokalpatriotischen und liberalen Möhrenzuchtverein", der das "höchste, | |
kleinste und gleichzeitig größte Möhrenmuseum weltweit" betreibt. Die | |
Exponate befinden sich in einem alten schlanken Trafoturm. Der Turm mit | |
seinen kaum drei Quadratmetern Grundfläche ist nicht begehbar, deshalb | |
können alle Exponate nur durch eine Scheibe in einem Kleinpaternoster | |
beguckt werden, per Knopfdruck vom Besucher steuerbar. | |
Kleiner Superstaat: Von 1816 bis 1919 existierte hier, als Teil des | |
heutigen Ostbelgiens, der Zwergstaat Neutral Moresnet. Er war gerade mal | |
270 Hektar groß, rund um ein lukratives Zinkerz-Bergwerk, auf das sich die | |
Niederlande und Preußen beim Wiener Kongress nicht einigen konnten. Die | |
Esparantisten wollten an diesem "Kreuzungspunkte der Völker" bald einen | |
Universalsprachenstaat schaffen. Es wurde ein Schmuggler- und | |
Säuferparadies, beliebter Fluchtort für Kriegsdienstgegner und | |
Steuervermeider. Immerhin existierte der Ministaat, der mit Belgiens | |
Gründung 1830 das einzige Vierländereck der Erde bildete, länger als die | |
Sowjetunion. | |
Straßenschilderlust: Drei Straßenschilder helfen das Land zu erklären: | |
Erstens die beliebte Hinweistafel "Luxemb(o)urg" - bürokratisch knapper | |
kann man mit Sprachenvielfalt nicht umgehen. Zweitens: Auf dem alten blauen | |
Straßenschild "Bauarbeiten Ende" ist links unten ein kleines Restehäufchen | |
zu sehen. Die Botschaft ist ein Nationalbekenntnis: Mag die Arbeit auch | |
getan sein, ganz fertig sind wir nie. Und drittens: Selbst bei Feldwegen | |
gilt rechts vor links. | |
In Nierenfett: Das Nationalgericht Pommes frites wird landestypisch gern in | |
Rindernierenfett gebraten - statt in Pflanzenfett wie bei uns. Es | |
entwickelt deshalb besonders knackig-nussige Geschmacksnoten. Jede | |
Wohnwagenfritöse hat ihren eigenen Charme. Gut: "Bona Me" in Eynatten. | |
Besser: das edle "Café des frites" in Hauset, wo man die Stäbchen in | |
Trüffelmayonnaise tunkt. Top: Restaurant Baraque Michel oben im Venn mit | |
"Fritten einzeln aus der Hand geschnitten" - verspricht der Wirt. | |
Die reine Wundertüte: Der Limbourger Politologe Herbert Ruland nennt | |
Ostbelgien ein Stück "Anarchie in Vollendung". Ruland ist politischer | |
Heimatforscher in der DG, der gebürtige Deutsche gräbt immer neue | |
Geschichten und Zeitzeugen der Nazi- und Nachkriegszeit aus. Seine Vorträge | |
und Ausflüge, etwa zu den kapriolenreichen Schmuggelrouten der | |
Nachkriegszeit, sind wissenspralle Lustreisen (Näheres unter | |
[1][www.grenzgeschichte.eu]). Wenn die Regierungskrise - seit Sommer 2010 | |
ist Belgien führungslos - nicht endet und sich das Land auflöst, werden die | |
Ostkantone wohl aufgeteilt: Der südliche Teil geht zu Luxemburg, die Region | |
um Eupen könnte wieder deutsch werden. Entsprechende Gedankenspiele gibt es | |
längst. Ruland würde das nicht wundern: "Dieses Land", sagt er, "ist die | |
reine Wundertüte." | |
17 Sep 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://www.grenzgeschichte.eu | |
## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
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