# taz.de -- Avantgarde in Mc Pomm: Mächtiger Zufall | |
> Schwerin und den französischen Künstler Marcel Duchamp verbindet nichts. | |
> Trotzdem befindet sich in Schwerin Europas größte Duchamp-Sammlung. | |
Bild: Air de Paris 1919/1964 von Marcel Duchamp. | |
SCHWERIN taz | Bezeichnend ist die Geschichte von dem Reiseführer, in dem | |
stand, Schwerin sei die Geburtsstadt von Marcel Duchamp. Wenn das stimmen | |
würde, dann wäre einleuchtend, warum Schwerin die größte Duchamp-Sammlung | |
in Europa hat – und ein Marcel Duchamp-Forschungszentrum dazu. | |
Aber die Geschichte in dem Reiseführer stimmt nicht. Duchamp wurde nicht in | |
Schwerin geboren, sondern in Blainville-Crevon in der Nähe von Rouen. Er | |
ist auch nicht in Schwerin gestorben, sondern in Neuilly-sur-Seine in der | |
Nähe von Paris. Er hat nie in Schwerin gelebt, sondern in Paris und New | |
York. Immerhin lebte er mal in München. Aber nur für zwei Monate. | |
Duchamp ist ein französischer Künstler der Avantgarde, vielen bekannt durch | |
das Pissbecken aus dem Jahr 1917, das unter dem Namen „Fountain“ in die | |
Kunstgeschichte eingegangen ist. Schwerin ist eine Stadt der | |
mecklenburgischen Herzoge, bekannt durch die vielen klassizistischen | |
Bauten, die nach der Wende frisch renoviert wurden. Duchamp und Schwerin | |
haben nichts gemein, weder biografisch noch ideell. | |
Zusammen gekommen sind die beiden durch Kornelia von Berswordt-Wallrabe, | |
die Direktorin des Staatlichen Museums Schwerin in den Jahren 1993 bis | |
2009. Von Berswordt-Wallrabe bewarb sich vom Kunstverein Wiesbaden nach | |
Schwerin. Damals habe sie nicht gewusst, wo die Stadt liege, sagte sie | |
später. | |
Das Staatliche Museum Schwerin war Anfang der 1990er berühmt für seine | |
Sammlung holländischer und flämischer Malerei des 16. bis 18. Jahrhunderts. | |
Im Kunstverein Wiesbaden hatte von Berswordt-Wallrabe unter anderem eine | |
größere Ausstellung über den Avantgarde-Künstler und Neue Musik-Komponisten | |
John Cage gemacht. | |
## New York, Schwerin | |
Als sie in Schwerin angekommen war, bekam sie die Chance, 15 Arbeiten von | |
John Cage für Schwerin aufzukaufen und tat dies der Horizonterweiterung | |
wegen. Dann fand sie, dass es nötig sei, sich nun auch für Duchamp zu | |
interessieren – Cage und Duchamp waren befreundet und arbeiteten von Zeit | |
zu Zeit zusammen. Von Berswordt-Wallrabe stieß auf den belgischen Sammler | |
Ronny van de Velde, der bereit war, seine Duchamp-Sammlung zu verkaufen. | |
Von Berswordt-Wallrabe wollte zuschlagen: Es war die Chance, das Staatliche | |
Museum Schwerin zu profilieren. Auf dem Feld Duchamp würde Schwerin damit | |
auf einen Schlag internationale Bedeutung erlangen. Das Museum würde in | |
einem Atemzug genannt werden mit London, Stockholm und New York. | |
Von Berswordt-Wallrabe hatte mit der Idee keinen leichten Stand, zumal sie | |
Geld kostete, das irgendwo herkommen musste. Sie ging zum Land | |
Mecklenburg-Vorpommern. „Da haben sie mir gesagt: ’Wir haben die Holländer, | |
warum sollen wir jetzt sowas ankaufen?‘“ Auch beim Sparkassen- und | |
Giroverband habe man ihr gesagt: „Wissen Sie, passen Sie mal auf Ihre | |
Holländer auf.“ Aber sie blieb hartnäckig. Ihr Argument: „Die Herzoge hab… | |
die Niederländer als zeitgenössische Kunst gekauft. Wir tun das Gleiche, | |
wenn wir Duchamp kaufen.“ | |
Von Berswordt-Wallrabe schaffte es schließlich, dass der Bund, das Land | |
Mecklenburg-Vorpommern und die Norddeutsche Landesbank den Kauf | |
finanzierten. 1998 war das Geld zusammen: Das Museum kaufte 69 Arbeiten für | |
fünf Millionen D-Mark. Mittlerweile umfasst die Sammlung 90 Werke. Ein Teil | |
davon ist in der aktuellen Dauerausstellung zu sehen. | |
„Der Sammlungskauf wurde von der lokalen Presse nicht wahrgenommen“, sagt | |
von Berswordt-Wallrabe heute. 1998 zeigte das Museum die neue Sammlung und | |
von Berswordt-Wallrabe veranstaltete das erste Duchamp-Symposium. 2009 ging | |
sie in Ruhestand. Im selben Jahr wurde am Staatlichen Museum Schwerin das | |
Duchamp-Forschungszentrum gegründet. | |
Das Forschungszentrum besteht aus drei Mitarbeitern, die unter anderem die | |
Schriftenreihe Poiesis heraus- und ein Forschungsstipendium vergeben. „Das | |
besondere hier ist, dass man die Sammlung sehen und mit ihr arbeiten kann“, | |
sagt Mitarbeiterin Katharina Uhl. Das Forschungszentrum befindet sich im | |
Hinterhof des Museums in einer Villa, die einst die Russen als Kaserne | |
genutzt hatten. | |
Eine direkte Verbindung zum 1968 verstorbenen Duchamp schafft eine Pflanze, | |
die am Fenster steht. Sie heißt der „Mottenkönig“ und ist Ableger einer | |
Pflanze, die einmal Duchamp gehörte. Der soll den Ableger in den | |
1960er-Jahren dem New Yorker Künstler Jasper Johns mitgebracht haben, der | |
wiederum einen Ableger dem damaligen Direktor der Baseler Kunsthalle Carlo | |
Huber schenkte. Von dort aus gelangte ein Ableger des Mottenkönigs zu einem | |
Lübecker Architekten, der wiederum das Forschungszentrum in Schwerin | |
beschenkte. | |
Mit dem Mottenkönig scheint es der gleiche Vorgang gewesen zu sein, der | |
auch die Sammlung Ronny van de Veldes nach Schwerin brachte: Jemand kommt | |
in eine fremde Stadt und kennt jemand, der jemanden kennt, der etwas mit | |
Duchamp zu tun hat. Duchamps Werk geht dann auf die Reise von einem Kontakt | |
zum nächsten und am Ende landet es auf einem Flecken Erde, den niemand | |
vorhergesehen hätte. | |
## Zufall als Konzept | |
Es ist der Zufall, der Duchamp nach Schwerin brachte. Zugleich ist es der | |
Zufall, der, als Konzept verstanden, von Duchamp in die Kunstproduktion | |
eingeführt wurde. Im Jahr 1913 ließ er bei seinem Werk „Drei Musterfäden“ | |
drei Fäden aus der Höhe von einem Meter waagrecht fallen. So wie sie | |
gefallen waren, fixierte er sie auf drei Glasplatten. Er nannte das | |
„konservierten Zufall“. Seitdem gilt Duchamp als der Gründungsvater der | |
Zufallsästhetik. | |
Die sogenannten Ready-mades waren dann nichts anderes als | |
Alltagsgegenstände, die Duchamp zur Kunst erhob. Er stellte den Begriff | |
davon, was ein Kunstwerk ist und was nicht, radikal in Frage und zeigte, | |
dass es lediglich die Zuschreibung des Kunstbetriebs ist, die einen | |
Gegenstand zur Kunst macht. Sein Ansatz, statt eines Werks die Idee in den | |
Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens zu stellen und nicht ein | |
physisches Werk, hat die Kunstproduktion und -rezeption nachhaltig | |
bereichert und verändert. | |
Sein Einfluss und seine Verehrung reichen weit. Eine von vielen Geschichten | |
ist die des französischen Konzeptkünstlers Pierre Granoux, der vorschlug, | |
eine Straße in Schwerin umzubenennen in „Rue Marcel Duchamps“. Auf die Idee | |
war Granoux gekommen beim Lesen des Reiseführers mit den falschen | |
biografischen Angaben. Granoux wollte den Scherz weiter treiben. Angeboten | |
hätte sich die Straße, an der sich das Forschungszentrum befindet. | |
Aber dazu kam es nicht: Nach wie vor muss das Forschungszentrum mit der | |
Adresse vorliebnehmen, die seit Menschengedenken für dieses Haus gilt. Sie | |
lautet: Alter Garten 3. | |
12 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Klaus Irler | |
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