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# taz.de -- Hörner und Posaunen bratzen
> Beim Musikfest Berlin wird des jüngst verstorbenen Komponisten Wolfgang
> Rihm gedacht und der 200. Geburtstag Anton Bruckners gefeiert. Kirill
> Petrenko steuerte die Philharmoniker sicher hindurch
Bild: Die seltsamste Musik des Festivals: Ensemble Exaudi
Von Tim Caspar Boehme
Gut anderthalb Monate ist er her, dass der Komponist Wolfgang Rihm im Alter
von 72 Jahren starb. Er war 2020 an Krebs erkrankt, hatte aber noch bis
zuletzt gearbeitet. Für die Saison 2024/25 war er als Composer in Residence
der Berliner Philharmoniker angekündigt. Stattdessen verabschiedete sich
das Orchester unter Leitung seines Chefdirigenten Kirill Petrenko jetzt
beim Musikfest Berlin an drei Abenden von Rihm mit einem Werk, in dem nur
Teile des Ensembles überhaupt zum Einsatz kamen.
„In-Schrift“ von 1995 war ein Auftragswerk für die Musikbiennale von
Venedig, geschrieben für die Basilika von San Marco. Das zwanzigminütige
Stück huldigt den räumlichen Gegebenheiten des Kirchengebäudes, lässt den
einzelnen Stimmen viel Raum. Vor allem Bläser sind in dieser Besetzung
stark vertreten, dazu die tiefen Streicher von Celli und Bässen, eine Harfe
und fünf Schlagzeuger. Besonders die Bläser treten immer wieder mit
einzelnen melodieartigen Linien hervor, manchmal bratzen die Hörner und
Posaunen sogar kräftigst.
Rihm war zu Beginn seiner Karriere für seinen in der Nachkriegsmoderne
untypischen Expressionismus gefürchtet, zur Zeit von „In-Schrift“ hatten
übergeordnete Strukturprinzipien bei ihm stärkere Bedeutung erlangt. Den
Titel berücksichtigte Rihm in diesem Fall mit einer erstaunlich
lautmalerisch-konkretistischen Herangehensweise: In der Mitte des Stücks
hämmern die Holzblöcke des Schlagzeugs vernehmlich, so wie Meißel, die
Lettern in Stein hauen.
[1][Das Hämmern, wenngleich eher im übertragenen Sinn, beherrschte auch
Anton Bruckner] auf meisterliche Art. Der am 4. September 1824 geborene
Komponist, dessen 200. Geburtstag dieses Jahr auf dem Musikfest mit einem
Schwerpunkt gedacht wird, schuf vor allem in seinen Symphonien dramatisch
monumentale Formen des Insistierens, die beim Zuhören schon mal Schwindel
verursachen können.
So wuchtig seine Musik daherkommt, so unsicher war Bruckner als Person und
als Künstler. Seine 5. Symphonie, die die Berliner Philharmoniker zusammen
mit Rihms „In-Schrift“ aufführten, nahm er in Angriff, nachdem er zum
dritten Mal erfolglos versucht hatte, Professor an der Universität Wien zu
werden. Zum Anlass passend, wählte er eine möglichst „akademische“
Kompositionstechnik, die Polyphonie. Im Ausdruck ist das Ergebnis jedoch
alles andere als akademisch nüchtern, sondern typisch Bruckner. Er steigert
sich in immer heftiger anbrandende Wellen, die endlos weiter anschwellen zu
können scheinen. Überhaupt gerät diese konsequente Mehrstimmigkeit bei
Bruckner zur perfekten Meeresmusik, ein unüberschaubarer Ozean aus sich
gegenseitig überlappenden Wellen öffnet sich, reißt einen mit, wird an
Stellen zum ohrenbetäubenden Tosen. Petrenko steuerte die Berliner
Philharmoniker sicher durch diese unruhige See, tosender Applaus hinterher
dafür. Anton Bruckner war nicht bloß ein Komponist, der die Extreme der
symphonischen Form auslotete, sondern vor allem ein sehr religiöser
Katholik.
Sein geistliches Schaffen schließt dabei den Willen zur großen Form nicht
aus, doch gibt es bei ihm in seinem frühen Schaffen auch kleiner
dimensionierte liturgische Musik. Der RIAS Kammerchor und die Akademie für
Alte Musik unter der Leitung von Łukasz Borowicz werden diese am Mittwoch
zum Abschluss des Musikfests in der Philharmonie vorstellen. Nicht fehlen
darf gleichwohl Bruckners große Messe Nr. 1 in d-Moll von 1864. Zwei Jahre
vor seiner ersten offiziellen Symphonie entstanden, bedeutete die Messe für
den Komponisten den Durchbruch.
Gegen Ende hin beschließt [2][das Musikfest zudem sein übergeordnetes Thema
„Amériques“], aber nicht mit Musik eines amerikanischen Komponisten, gleich
von welchem Kontinent, sondern vom Franzosen Olivier Messiaen. Dieser
schrieb seine umfangreichste Orchestermusik, „Des Canyons aux étoiles …“
(1974), inspiriert von einer Reise durch den US-Staat Utah und seine
Nationalparks. Und im Auftrag der Mäzenin Alice Tully, gedacht für die
Zweihundertjahrfeier der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten.
Am Dienstag spielt die Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker, erneut
in der Philharmonie, unter Sir Simon Rattle das Werk, in dem Messiaen
Vogelstimmen aus Utah ebenso wie Farbeindrücke vom Bryce Canyon
verarbeitete – er war sowohl Ornithologe als auch Synästhetiker.
Apropos Eigenartiges: Die wohl seltsamste Musik führte bei diesem Musikfest
das Ensemble Exaudi am Sonnabend in der St.-Matthäus-Kirche auf. Obwohl in
der Renaissance komponiert, war das Programm des Konzerts höchst
gegenwärtig. Und das dank des Außenseiters Nicola Vicentino, der seinerzeit
einen neuen Zugang zur Musik der Antike versprach, mit „enharmonischer“
Musik. Heute würde man das Ergebnis „mikrotonal“ nennen, mit einer in
kleinste Schritte unterteilten Tonleiter. Die Sänger klangen dabei, als
würden sie sich während der Aufführung einstimmen. Echt schräg.
Bis 18. 9., Philharmonie
16 Sep 2024
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## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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