# taz.de -- „So viele Ping-Pong-Momente“ | |
> Ob im Theater, als Film oder Hörspiel: In ihren künstlerischen Projekten | |
> versucht die Werkgruppe2 soziale Wirklichkeit zu beschreiben – aus der | |
> Perspektive von Menschen, die sonst kaum im Fokus der öffentlichen | |
> Aufmerksamkeit stehen. Ein Gespräch mit Regisseurin Julia Roesler, | |
> Komponistin und Musikerin Insa Rudolph und Dramaturgin Silke Merzhäuser | |
Bild: Thema Schwangerschaftsabbrüche von 1945 bis heute: Werkgruppe2-Projekt �… | |
Interview Katrin Ullmann | |
taz: Silke Merzhäuser, Julia Roesler, wir treffen uns gerade per | |
Videokonferenz. Arbeitet und lebt ihr gar nicht in derselben Stadt? | |
Silke Merzhäuser: Nein. Daher ist Zoom tatsächlich unser | |
Haupt-Arbeitsmittel. Julia lebt in der Nähe von Göttingen, Insa in | |
Frankfurt, und ich lebe in Hannover. | |
Wie kam es zu eurer Zusammenarbeit? | |
Julia Roesler: Ich habe in Hildesheim studiert und am Ende des Studiums | |
2006 habe ich mit Insa die Werkgruppe2 gegründet und drei Jahre lang erste | |
Produktionen gemacht. 2009 gab es die dokumentarische Produktion | |
„Friedland“, die als Kooperation mit dem Deutschen Theater in Göttingen | |
entstanden ist, bei der Silke mit dazugekommen ist. | |
Merzhäuser: Darin ging es um das Grenzdurchgangslager in Friedland. Wir | |
haben Interviews mit Menschen geführt, die temporär in diesem Lager gelebt | |
haben. Das waren bei der Gründung Ende der 40er-Jahre deutsche | |
Kriegsheimkehrer*innen, später aber auch Geflüchtete aus Afghanistan oder | |
Boat People aus Vietnam. | |
Der Ausgangspunkt für das dokumentarische Arbeiten, wie es die Werkgruppe2 | |
bis heute prägt? | |
Merzhäuser: Ja. Wir haben damals viele Interviews geführt und festgestellt, | |
dass die Art, wie die Menschen sprechen mit ihren jeweiligen Akzenten und | |
Dialekten, mit dem wenigen Deutsch, das sie zur Verfügung haben, dass das | |
auch ganz charakteristisch ist für ihre Lebensgeschichte. Dass also die | |
Art, wie gesprochen wird, mit welchem Vokabular und auch mit welchen | |
sprachlichen Hürden, eng mit den Inhalten verknüpft ist. | |
Ihr recherchiert lange, arbeitet Interview-basiert … ihr hättet eigentlich | |
auch Journalistinnen werden können. | |
Roesler: Damit wären wir vielleicht auch glücklich geworden. Aber durch ein | |
künstlerisches Medium eröffnen sich neue Möglichkeiten und Zugriffe. Und | |
eine andere Pointierung und Zuspitzung. Es gab eine für uns wichtige Tagung | |
2014 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin mit dem Titel „Krieg | |
erzählen“, kuratiert von Carolin Emcke. Zentrales Thema war auch die Krise | |
des Journalismus. Und der Eindruck, dass Journalist*innen versuchen, | |
sich künstlerische Formate anzueignen, weil sie merken, in der Fülle der | |
zur Verfügung stehenden Informationen ist es schwierig, überhaupt noch ein | |
Publikum zu finden für die schweren Themen und Nachrichten. Und dass immer | |
wieder die Zusammenarbeit mit Künstler*innen gesucht wird, um eine | |
emphatische Anbindung zwischen Leser*innenschaft und Thema | |
herzustellen. Das war eine Bestätigung für uns, weil wir gemerkt haben, das | |
ist genau die Verknüpfung, an der wir arbeiten. | |
Ihr beschäftigt euch immer wieder mit Randfiguren, die sonst eher keine | |
Bühne bekommen: Zimmermädchen, polnische Pflegekräfte, eine | |
Nicht-Normgewichtige. | |
Merzhäuser: Themen begegnen uns laufend, es ist eher ein sorgfältiges | |
Sortieren und Befragen: Welche Themen stellen uns wirklich vor ungelöste | |
Fragen? Meist Fragen nach Gerechtigkeit, wo es uns schwer fällt, Haltung zu | |
beziehen. | |
Wie und wann kommt die Musik ins Spiel, Insa Rudolph? | |
Insa Rudolph: Bei unseren Projekten wird die musikalische Ebene sehr früh | |
mitgedacht, die Recherche umfasst auch Fragen wie: Welche Rolle spielt | |
Musik für ein Thema und die Menschen, die wir interviewen? Wie klingen ihre | |
Lebens- oder Arbeitswelten? Oft ergeben sich daraus erste konzeptionelle | |
Ideen für die künstlerische Umsetzung. Bei „Friedland“ haben wir unter | |
anderem mit Radios, alten Ton-Aufnahmen und sogar Original-Kassetten | |
gearbeitet, die die Schauspieler*innen während der Aufführung be- und | |
abgespielt haben. Eine Art Klanginstallation des Erinnerns. | |
Wie entsteht die jeweilige Klangwelt? | |
Rudolph: Mal arbeite ich mit Vor-Ort-Aufnahmen wie zum Beispiel beim | |
Hörspiel „Bitte nicht stören“: Da bin ich durch Hotels gelaufen, habe | |
Reinigungskräfte bei der Arbeit begleitet und Geräusche gesammelt, aus | |
denen musikalische Miniaturen und Patterns entstanden sind. Manchmal sind | |
Bilder, Geschichten oder Sätze Inspirationsquelle für Kompositionen. Und | |
natürlich liegt auch in der Sprache selbst, wie wir sie transkribieren und | |
auf die Bühne bringen – mit Pausen, Stocken, Lücken – eine Form von | |
Musikalität. | |
Roesler: Ein konkretes Beispiel: Im Frühjahr dieses Jahres haben wir am | |
Theater Oberhausen mit „§218“ ein Projekt über Schwangerschaftsabbrüche … | |
1945 bis heute entwickelt. Dazu haben wir auch Frauen in einem Seniorenheim | |
interviewt. Während der Gespräche haben wir bemerkt, dass eine große | |
Sprachlosigkeit herrscht und nur in Floskeln gesprochen wird. Diese Frauen | |
waren nicht geübt darin, über diese tabuisierten Themen zu sprechen. Die | |
Gespräche gaben narrativ fast gar nichts her, aber Insa hat genau daraus | |
eine sehr feine Komposition geschrieben. | |
Rudolph: Die bestand nur aus Sätzen wie „Was willste machen?“, „Es war h… | |
so …“ und „Es war halt ’ne andere Zeit“. | |
Eure nächste Arbeit „Hier spricht die Polizei“ ist eine Kooperation mit den | |
Ruhrfestspielen Recklinghausen und dem Staatstheater Hannover. Wie kamt ihr | |
auf das Thema? | |
Merzhäuser: Ich war zu einer Diskussionsveranstaltung mit dem Titel | |
„Solidarität“ eingeladen, zusammen mit Anja Weber, der | |
nordrhein-westfälischen DGB-Vorsitzenden. Die hat sehr eindrücklich | |
geschildert, in welch ambivalente Situationen Polizist*innen geraten | |
können, wenn sie im Hambacher Forst eingesetzt werden und selbst Kohleabbau | |
ökologisch für wenig sinnvoll halten. Ich habe gemerkt, dass mich diese | |
Aussagen in meiner grundsätzlichen Polizeikritik sehr gefordert haben. Dass | |
auch ich Stereotype über Polizist*innen pflege und es mir schwer fiel | |
zu benennen, wie die Vision einer „guten“ Polizei aussehen könnte. | |
Premiere ist erst Mitte Mai bei den Ruhrfestspielen – ein üblich langer | |
Vorlauf? | |
Roesler: In der Regel recherchieren wir fast ein Jahr lang. In diesem Fall | |
war die Räumung des besetzten Dorfes Lützerath unser Auftakt, den wir auf | |
Polizei-Seite begleitet haben und im Anschluss Interviews geführt. Die | |
Grundannahme ist, dass wir den Menschen, die wir interviewen, mit einem | |
emphatischen Blick begegnen wollen. Bei dem Polizei-Thema gab es eine | |
starke Ambivalenz. Auch hier versuchen wir, offen in die Interviews zu | |
starten, aber vielleicht mehr als bei anderen Themen auch kritisch | |
nachzufragen. | |
Merzhäuser: Wir arbeiten immer mono-perspektivisch. Das heißt, wir | |
interviewen nur Polizist*innen und nicht, wie es vielleicht auch | |
möglich wäre, Demonstrant*innen. | |
Das Publikum wird damit konfrontiert … | |
Merzhäuser: … und muss sich selbst viel stärker positionieren und fragen: | |
„Was würde ich erwidern?“ | |
Basierend auf den Interviews entsteht eine Stückfassung, die dann | |
professionelle Schauspieler*innen sprechen – bei „Hier spricht die | |
Polizei“ sind das Ensemblemitglieder des Schauspiels Hannover. | |
Roesler:Die Stückfassung, mit der wir starten, beinhaltet möglichst genau | |
die transkribierte mündliche Sprache mit jedem Versprecher und jeder | |
Auslassung. Um das wirklich zu begreifen, ist es gut, sich die Interviews | |
anzuhören, um Sprache, Gestus, Duktus genauer kennenzulernen. Die | |
Schauspieler*innen werden zu Stellvertreter*innen der | |
Interviewten. | |
Wann entscheidet ihr, ob aus einer Recherche ein Bühnenstück wird, ein Film | |
oder ein Hörspiel? | |
Roesler: Wir haben gemerkt, dass der Recherche-Aufwand einerseits sehr groß | |
ist und sich Themen mit einer Theaterinszenierung manchmal nicht fertig | |
erzählt angefühlt haben. Unser erster Kurzfilm „Marina“ war als offenes | |
Experiment gedacht, auf das wir sehr viel positive Resonanz bekommen haben. | |
Manches ist in einem anderem Medium auch einfacher. Es gibt keine | |
Dokumentartheater-Tradition wie es eine Dokumentarfilm-Tradition gibt. | |
Fragen nach Abbildung von Wirklichkeit stellen sich im Medium Film viel | |
zwingender als im Theater, wo per se repräsentiert wird. | |
Merzhäuser: Nachdem wir angefangen hatten, auch Hörspiele und Filme zu | |
machen, haben wir die spezifische Qualität von Theater wieder besser | |
verstanden. Fragen wie: Wer wird das Stück sehen, an welchem Ort und welche | |
Geschichten sind für diese Menschen an diesem Ort wichtig? Das Publikum ist | |
im Theater oft viel konkreter vorstellbar. Darin sehen wir momentan eine | |
große Chance. | |
Was unterscheidet euch von einer Dokumentartheatergruppe wie | |
Rimini-Protokoll? | |
Merzhäuser: Wir sind oft gefragt worden, warum wir nicht die Menschen, die | |
wir interviewt haben, auf die Bühne stellen. Das hat verschiedene Gründe: | |
Wir arbeiten sehr musikalisch, das bedingt oft die Arbeit mit | |
professionellen Musiker*innen. Auch sind manche Themen so intim, gerade | |
wenn es um Traumatisierungen geht, dass die Stellvertretung durch eine | |
professionelle Schauspieler*in die einzige Möglichkeit ist, eine | |
Geschichte zu erzählen. Was bei Rimini-Protokoll die „dokumentarische | |
Beglaubigung“ durch die Lai*innen ist, ist bei uns vielleicht die mündliche | |
Sprache. | |
Was sollen eure Arbeiten erreichen? | |
Roesler: Es geht uns um eine Fokusverschiebung. Aber es geht nicht nur | |
darum, unterrepräsentierten Menschen eine Stimme zu geben, sondern auch | |
auszuloten, wie ist mein Verhältnis zu diesen Menschen? Was geht mich deren | |
Lebensrealität an? | |
Fokusverschiebung, damit ein Nachdenken über bestimmte Themen überhaupt | |
Raum erhält? | |
Merzhäuser: Genau. Einen Platz in unseren Köpfen, aber eben auch in | |
größeren Resonanzräumen. | |
Was bedeutet da die Arbeit als Kollektiv? | |
Merzhäuser: Gemeinsam fühlt man sich immer ein bisschen klüger … | |
Roesler: … und diese Sicherheit, die wir dadurch haben. Gerade in | |
schwierigen Situationen sind die Kolleginnen immer da und wir können | |
gemeinsam auf der Basis sehr großen Vertrauens nach der bestmöglichen | |
Lösung suchen. Das hilft auch bei Verhandlungen mit Kooperationspartnern. | |
Rudolph: Für mich ist es auch ein künstlerisches Probierfeld. Und zwar ein | |
geschütztes. Wir entscheiden und stoßen viel gemeinsam an. Irgendwann geht | |
dann jede wieder in ihre Kernkompetenz zurück. Aber alleine hätte ich nie | |
so viele Ping-Pong-Momente, thematische Anknüpfungspunkte und künstlerische | |
Anstöße wie in dieser Zusammenarbeit. | |
www.werkgruppe2.de | |
3 Jan 2024 | |
## AUTOREN | |
Katrin Ullmann | |
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