| # taz.de -- Die Langzeitstudie | |
| > „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner, an der Staatsoper Berlin | |
| > neu inszeniert von Dmitri Tcherniakov. Christian Thielemann dirigiert die | |
| > Staatskapelle von Daniel Barenboim | |
| Bild: Finstere „Götterdämmerung“ an der Staatsoper, hier mit Anja Kampe a… | |
| Von Niklaus Hablützel | |
| Er ließ sich Zeit. Erst zum zweiten Vorhang am Ende der „Götterdämmerung“ | |
| kam auch Dmitri Tcherniakov auf die Bühne. Die üblichen Buhrufe der | |
| Wagnergemeinde waren zu hören. Besonders laut waren sie nicht. Tcherniakov | |
| kennt sich aus an der Staatsoper. Er hat hier sechs Opern inszeniert, immer | |
| mit Daniel Barenboim an seiner Seite. Wie schon 2016 angekündigt, wollten | |
| beide zusammen hier auch ihren „Ring des Nibelungen“ aufführen. | |
| Erst nach der Coronapause war es so weit, vom 2. bis zum 9. Oktober, mitten | |
| in Russlands Krieg gegen die Ukraine. Niemand kaum auf die Idee, den | |
| russischen Regisseur zu fragen, was er davon halte. Tcherniakov ist 1970 in | |
| Moskau geboren und viermal mit der „Goldenen Maske“, dem Nationalpreis der | |
| russischen Theaterunion, ausgezeichnet worden. Seine Antwort auf Putins | |
| Aufstieg ist seit Jahren auf der Bühne zu sehen und es lohnt sich, daran zu | |
| erinnern. | |
| Die Zusammenarbeit mit Barenboim begann 2005. Tcherniakov inszenierte | |
| Mussorgskis „Boris Godunov“: Mitten im Moskau nach dem Zusammenbruch der | |
| Sowjetunion sitzt ein Mörder auf dem Zarenthron und versinkt im Wahnsinn, | |
| weil ihn das Volk nicht liebt. An der Staatsoper war das Buhgeschrei nach | |
| der Premiere lauter als jetzt nach der „Götterdämmerung“. Wir mussten erst | |
| lernen, wie hellsichtig Tcherniakows Diagnose war. | |
| Es ging russisch weiter. 2008 dirigiert Barenboim Sergej Prokofiews Oper | |
| „Der Spieler“, Tcherniakow lässt die Schmarotzer der Wirtschaftskrise im | |
| Spielcasino mit ihren Rubeln protzen. 2013 holt er für Rimsky-Korsakows | |
| „Die Zarenbraut“ das Studio des russischen Staatsfernsehens auf die Bühne, | |
| das dort zum Soundtrack von Barenboim in Realzeit digitale Nationalromantik | |
| produziert. 2015 schickt er Parsifal in die sibirische Steppe, wo Barenboim | |
| Wagners Ersatzreligion der Gralsritter dirigiert. [1][2018 darf Barenboim | |
| endlich auch einmal den ganzen „Tristan“ dirigieren, nicht nur das Vorspiel | |
| und den Liebestod auf seinen Konzertreisen mit der Staatskapelle]. | |
| Tcherniakov baut ihm eine Jacht für Oligarchen, die eine Frau eingekauft | |
| haben und an einem Drogenproblem an Bord scheitern. 2019 ist nur noch die | |
| Musik russisch. Barenboim dirigiert wieder Prokofiew: „Die Verlobung im | |
| Kloster“. Der Text ist eine irische Komödie des 18. Jahrhunderts und für | |
| Tcherniakov Anlass, sich selbst in Frage zu stellen. Er arbeitet inzwischen | |
| an den wichtigsten Opernhäusern Europas. | |
| Warum ist er immer so erfolgreich und umstritten zugleich? Seine Antwort | |
| ist radikal: Weil die Oper eine Droge ist. Prokofiews Komödienkloster wird | |
| zum Saal, in dem sich die Selbsthilfegruppe „Gemeinschaft anonymer | |
| Opern-Abhängiger“ zu ihren therapeutischen Sitzungen trifft. | |
| Nun also „Der Ring des Nibelungen“, ein besonders schwerer und keineswegs | |
| anonymer Fall von Opernsucht. Im DDR-Prunk des Bühnenportals hängt ein | |
| schwarzer Vorhang, auf dem in Weiß der Grundriss eines weitläufigen | |
| Gebäudes zu sehen ist. Es gibt kleine, nummerierte Räume, Flure, größere | |
| Hallen, Eingangstore, Fluchtwege, keine Fenster. Die Erklärung steht links | |
| unten in Initialen: „FORSCHUNGSZENTRUM“, daneben, an den rechten Rand | |
| gerückt: „E.S.C.H.E“, offenbar die Abkürzung einer wissenschaftlichen | |
| Institution. Wer Wagner kennt, denkt an die Weltesche. Auch sie ist ein | |
| Fall für die Wissenschaft. Das Programmheft ist eine 414 Gramm schwere | |
| Aufsatzsammlung. Im Vorwort fasst Tcherniakov Wagners Handlung zusammen, um | |
| den Forschungsauftrag zu definieren: Individuen mit auffälligen | |
| Verhaltensstörungen sollen untersucht werden. Sie leiden an Größenwahn, | |
| Rachsucht und Habgier, glauben an die natürliche Herrschaft des Mannes und | |
| sind jederzeit zu äußerster Gewalt bereit. Ihre Sexualität befriedigen sie | |
| mit Vergewaltigungen und Inzest. | |
| Damit aus diesem Befund ein Theater wird, muss vor allem Zeit vergehen. | |
| Tcherniakov inszeniert eine Langzeitstudie. Wagner hatte sich drei | |
| komplette Opern von 5 bis 6 Stunden Dauer gegönnt. Davor steht der | |
| sogenannte Vorabend von zweieinhalb Stunden, der mit einem gewöhnlich als | |
| endlos empfundenen Es-Dur Akkord anfängt. Hier ist er bald verklungen. | |
| Ein paar Minuten lang sehen wir Röntgenaufnahmen von Blutgefäßen, dann | |
| stehen wir vor dem Stresslabor. Der wunderbare Bariton Johannes Martin | |
| Kränzle ist auf einem medizinischen Stuhl festgebunden und mit Sensoren | |
| verkabelt. Drei junge Assistentinnen singen ihn an, damit seine Reaktion | |
| auf erotische Reize gemessen werden kann: „walla, walla“. Der Versuch | |
| misslingt, weil Kränzle Alberich ist und das Labor demoliert. Das Protokoll | |
| kann immerhin festhalten, dass der Proband „der Liebe abgeschworen“ und die | |
| Platinen der zerstörten Computer als „Rheingold“ mitgenommen habe. | |
| So geht es immer weiter. Jedes Wort, jeder Schritt und jede Geste werden | |
| untersucht. Das Forschungszentrum stellt Wohnungen, Konferenzräume und | |
| Vortragssäle zur Verfügung. Niemand spielt Theater, alle sind nur, was sie | |
| selbst sagen können. Sie halten sich für Götter und Helden, Riesen und | |
| Zauberer, liebende und treu dienende Frauen. Alles ist so wahr, dass es | |
| mehrfach wiederholt werden muss. Das Ergebnis ist ein durchaus | |
| unterhaltsamer Roman über Leute, die wir heute aus den Echokammern der | |
| digitalen Medien kennen. Patriarchen feiern ihre Allmacht über Frauen und | |
| Ausländer, jede Kritik wird mit einem Shitstorm bestraft. | |
| Wo bleibt die Musik? Daniel Barenboim hätte sie gerne dirigiert. Eine | |
| schwere Nervenkrankheit hat ihn daran gehindert. Christian Thielemann | |
| leitet die Staatskapelle. Barenboim wird am 15. November 80 Jahre alt und | |
| für ihn hatte die Staatsoper neben Kränzle auch noch Michel Volle und Anja | |
| Kampe verpflichtet, Andreas Schager gehört ohnehin zum festen Ensemble. | |
| Bessere Wagnerstimmen gibt es zur Zeit nicht. So gut es ohne Proben möglich | |
| war, gab Thielemann ihnen den Raum, ihre Kunst zu entfalten, mühelos, | |
| sicher und lebendig. Ein seltener Glücksfall für Wagners Musik. Auch sie | |
| ist die Inszenierung ermüdend langer Zeitstrecken. Ihre wenigen | |
| Leitmelodien muss sie ständig wiederholen und die Klangflächen neu | |
| einfärben, in denen sie schwimmen. Der sinnliche Reiz verblasst schnell, | |
| mühsam schleppend erreicht sie das Ziel: den Untergang einer Welt in | |
| mythischer Übergröße. | |
| Eine Tragödie ist es nicht, nur ein Roman verirrter Fantasien, Deckel zu. | |
| Wissenschaftliche Erkenntnisse beruhen auf der Wiederholbarkeit empirischer | |
| Experimente oder der nachprüfbaren Echtheit historischer Dokumente. | |
| Tcherniakows Forschungszentrum kann weiter arbeiten, mit Wiederholungen ist | |
| jederzeit zu rechnen. Dafür sorgt allein schon die Tatsache, dass die | |
| Krankheit der Opernsucht bisher nicht heilbar ist. | |
| 13 Oct 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Niklaus Hablützel | |
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