# taz.de -- Maschineller Palast der Erinnerung | |
> Kosmische Kombinatorik: Beim Musikfest Berlin sind gleich zwei deutsche | |
> Erstaufführungen der australischen Komponistin, Pädagogin und Forscherin | |
> Liza Lim zu erleben | |
Bild: Kommt aus dem Süden: Liza Lim | |
Von Robert Mießner | |
In Joseph Haydns 94. Sinfonie kommt es erst im zweiten Satz zum berühmten | |
Paukenschlag, der eigentlich ein lautstarker Akzent aller Instrumente ist, | |
der der Sinfonie – Surprise! – ihren Kosenamen gab und das Publikum in | |
Habtachtstellung bringt. Liza Lim wartet nicht so lange. Ihre um 2000 | |
entstandene Komposition „Machine For Contacting The Dead“ eröffnet abrupt | |
perkussiv und signalisiert sofort: Jetzt wird’s ernst. Es kann deutlich | |
davon ausgegangen werden, dass Lim ihre Hörer nicht in Sicherheit wiegen | |
will. Dazu besteht auch kein Anlass. Der Komponistin, Pädagogin und | |
Forscherin geht es um Ökologie und Geschichte. Es geht der 56-jährigen | |
Australierin um das, was Menschen anrichten, es geht ihr ausdrücklich nicht | |
darum, Menschen zu entlassen und zu verabschieden. Genauso interessiert die | |
Künstlerin Begehren und Schönheit. Das darf geräuschhaft geraten. Manchmal | |
muss es das sogar. | |
„Machine For Contacting The Dead“ ist eine von zwei Kompositionen Lims, die | |
nun im Rahmen der Berliner Festspiele ihre deutsche Erstaufführung erleben. | |
Die Maschine zur Anrufung der Toten beschäftigt 27 Musiker. In der | |
Besetzungsliste stehen dreimal Perkussion, dazu Piano – auch ein | |
Schlaginstrument – Harfe, Streicher und ein ganzes Arsenal an | |
Blasinstrumenten, von Klarinette bis Tuba. Die Komposition umfasst fünf | |
Teile. Ihre Titel signalisieren, dass auch nach dem jähen Auftakt kein | |
klassischer Wohlklang geboten wird: „Memory Palace“, „Spirit Weapons I“, | |
„Memory Body“, „Spirit Weapons II“ und „Ritual Bells“. Wie bei Hayd… | |
Paukenschlag handelt es sich dabei nicht einfach um Glocken, sondern um die | |
Instrumente des Ensembles, denen die Musiker glockenähnliche Sounds | |
entlocken. Ritualistisch ist das allerdings. | |
Wenn Lim der Erinnerung einen Palast errichten und ihr einen Körper | |
schenken möchte, erinnert das an ein Motiv, welches der Germanist Uwe | |
Schütte an dem antikolonialistischen Dramatiker Heiner Müller | |
herausstellte. Als Antrieb der Komponistin Lim darf vermutet werden, was | |
den Schriftsteller Müller antrieb, es ist in Schüttes Worten „das | |
Hekatomben umfassende Heer der Opfer der Geschichte. Sie müssen ausgegraben | |
werden, wieder und wieder. Anstatt sie unter schweren Steinplatten zu | |
begraben und in riesigen Monumenten einzumauern, müssen sie zurückgeholt | |
werden an die Oberfläche, damit der mit ihnen begrabene Kampf für ein | |
besseres Leben vor dem Tod für uns wieder lebendig werden kann.“ | |
Es sollte nicht vergessen werden, dass Liza Lim aus dem Süden kommt. Sie | |
ist 1966 im australischen Perth geboren und im Sultanat Brunei | |
aufgewachsen. Dem britischen Magazin für zeitgenössische Musik Divergence | |
Press hat Lim mehr erzählt. Sie spricht dort von ihren chinesischen, | |
malayischen, indischen und englisch-europäischen Prägungen. Die Kindheit in | |
Brunei muss für die Komponistin entscheidend gewesen sein. Sie erinnert | |
sich an den Dschungel und die immer präsente Natur, die Affen im Hinterhof | |
und die Intensität des Regenwalds: „Er bildet diese Klangwand, besonders | |
die Insekten. Wenn Heimweh einen Sound hat, dann ist er das.“ 1978 kehrte | |
Lim nach Australien zurück, wo sie später Philosophie und Komposition | |
studierte. Das Studium Letzterer führte sie in den Niederlanden fort. | |
Australische Komponistin heißt bei Lim, dass ihre Musik kein Reinheitsgebot | |
kennt. In ihrem Werk finden sich moderne abendländische, chinesische, | |
japanische und koreanische Sounds und solche der australischen Ureinwohner. | |
Als Beispiel für Lims kombinatorische Arbeitsweise kann ein Stück gelten, | |
mit dem die Komponistin bereits 2017 nach Berlin gekommen ist. „Ronda – The | |
Spinning World“ spinnt die Klangphilosophie des Schweizer Orchestermusikers | |
und Komponisten [1][Walter Smetak] weiter. Einer der großen Unbekannten, | |
der es ernst meinte, wenn er sagte: „Ich dachte, es wäre besser, mich auf | |
das freiheitliche Durcheinander der Tropen einzulassen, als mich dem | |
europäischen Desaster auszuliefern.“ 1937 ging Smetak nach Brasilien und | |
arbeitete ab 1957 an der Escola de Música der Universität Bahia. Er wurde | |
zum Anreger der Gegenkultur und des Tropicalismo, jener hybriden Musik, die | |
der Militärdiktatur suspekt war. Die Herren wussten, warum. Nach 2000 | |
konnte Liza Lim Smetaks Instrumentenmuseum besuchen. Die selbstgebauten | |
Klangerzeuger, die gleichzeitig auch Weltmodelle sind, arbeitete sie in | |
„Ronda“ ein. Die zweite Komposition, die Liza Lim in diesem Jahr mit nach | |
Berlin bringt, heißt „String Creatures“, ein Stück für Streichquartett. | |
Wenn da Kreaturen und nicht Kreationen steht, ist das kein Zufall. Mehr | |
über Lims kreatürliche Musik und ihren Kosmos ist in einem Buch des | |
Musikkritikers Tim Rutherford-Johnson zu erfahren. Es wird ebenfalls | |
vorgestellt und erscheint einen Tag nach dem ersten ihrer zwei Konzerte. | |
Lesen und Hören gehören unbedingt dazu, zum Denken und zum anderen Leben. | |
8 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
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