# taz.de -- Ein Drei-Frauen-am-Steuer-Abenteuer | |
> Julia Beckers Roadmovie „Over & Out“ ist eine feministische Übernahme | |
> altbekannter Jungsfilm-Motive: Drei Frauen, die schon lange befreundet | |
> sind, fahren eine Leiche durch Italien und erleben komische Abenteuer. | |
> Witzig ist der Film nur manchmal, aber voller geistreicher und lebendiger | |
> Dialoge | |
Bild: Viel Zeit im engen Auto = viel Raum für Streit, Beichten und Versöhnung… | |
Von Wilfried Hippen | |
Die Midlife-Crisis ist, zumindest in Romanen und Filmen, eine Domäne der | |
Männer. Frauenfiguren beginnen dann später, in der Menopause, ihr | |
bisheriges Leben infrage zu stellen. Und auch das Roadmovie erzählt fast | |
immer von Jungs und Autos. Diese Konvention wurde zwar grandios durch | |
Ridley Scott in „Thelma & Louise“ durchbrochen, aber es war ja gerade diese | |
Überraschung, die dem Genrefilm seine feministische Sprengkraft gab. Auch | |
Julia Beckers Film „Over & Out“ ist deshalb interessant, weil hier einmal | |
drei Frauen das tun, was im Kino sonst den Männern vorbehalten bleibt. | |
Worum geht es also? Lea, Steffi, Toni und Maya waren in ihrer Schulzeit | |
beste Freundinnen, die zusammen im Turnverein trainierten und sich darum | |
die „Muskeltiere“ nannten. Später verloren sie sich aus den Augen, aber sie | |
verband noch der Eid, dass sie sich immer dann treffen würden, wenn eine | |
von ihnen heiratet. | |
Nun lädt Maya die anderen nach Italien ein. Doch als sie dort eintreffen, | |
erfahren sie, dass in der schönen Dorfkirche nicht Miras Hochzeit, sondern | |
deren Trauerfeier stattfindet. Ja, solche Plotwendungen sollten in | |
Filmkritiken nicht verraten werden, aber da sie im Trailer schon nach den | |
ersten zehn Sekunden gespoilert wird, dürfte diese Überraschung hier wohl | |
kaum verdorben werden. | |
Per Videobotschaft bekommen die drei geschockten Freundinnen von Maya den | |
Auftrag, ihre Leiche durch ganz Italien zu transportieren und sie dann an | |
ihrer Lieblingsküste nach Wikingerart (also in einem brennenden Boot auf | |
dem Meer treibend) zu bestatten. Das von der Mutter geplante stinknormale | |
Begräbnis in Hamburg-Niendorf (der Prolog des Films wurde in Hamburg und | |
Seevetal gedreht, der Rest in Kroatien) wäre für sie die Rückkehr in die | |
ewige Spießerhölle gewesen, und so klauen die drei Mädels, die (zuerst | |
noch) schöne Leiche und fahren los. | |
Ja, auch das Motiv von der Reise mit einem Toten kommt in Jungsfilmen so | |
oft vor, dass man fast schon von einem Sub-Genre, den „Coffin-Road-Movies“ | |
sprechen kann. Aki Kaurismäki mit seinen „Leningrad Cowboys“, der Kanadier | |
Bruce McDonald in „Highway 61“ und Tomas Gutierrez in dem kubanischen Film | |
„Guantanamera“ sind dafür die besten Beispiele. Und auch hier macht die | |
feministische Übernahme das Altbekannte noch einmal interessant. | |
Während also Maya langsam anfängt zu riechen und ihre Gesichtsfarbe zu | |
verändern, geraten die noch lebenden drei „Muskeltiere“ in viele komische | |
Abenteuer. Bald haben sie nicht nur die Leiche, sondern auch ein Auto | |
geklaut, auf der Suche nach Benzin finden sie ausgerechnet in einer | |
einsamen Tankstelle einen deutschen Bekannten aus früheren Zeiten, und eine | |
Wahrsagerin scheint zwar wirklich Verbindung ins Reich der Toten zu haben, | |
vor allem aber versucht sie, die große Handtasche der Mädels zu klauen. Und | |
das käme in einem Jungsfilm mindestens einem Mordanschlag gleich. | |
Vor allem sitzen die drei (plus Leiche) aber viel in engen, fahrenden Autos | |
zusammen, und so kommt es zu Streit, gegenseitigen Beschuldigungen, | |
Beichten und Versöhnungen. Natürlich sind sie und ihre Lebensläufe so | |
unterschiedlich wie nur möglich. Böse kann man da von Klischees, | |
freundlicher von Archetypen sprechen. Lea ist eine erfolgreiche Managerin, | |
die der Karriere ihr Privatleben geopfert hat, Lea ein Rockstar mit sehr | |
vielen Tattoos, die das freche Mädchen-Image bestätigen sollen, und Steffi | |
ist die Hausfrau mit Mann und Kindern. | |
Der Witz dabei ist, dass diese meist verschreckte Mami von Julia Becker | |
gespielt wird. Und die führt bei „Over & Out“ auch Regie, ist also die | |
Professionellste von allen. Auch die anderen Hauptrollen in diesem | |
Ensemblefilm sind gut besetzt. Jessica Schwarz ist als die souveräne, | |
vernunftgesteuerte Geschäftsfrau sehr glaubwürdig und Petra | |
Schmidt-Schaller ist das wilde Girlie, dessen größtes Problem es ist, dass | |
es schon lange kein Mädchen mehr ist. | |
Am schwierigsten dürften die Dreharbeiten wohl für Nora Tschirner gewesen | |
sein, denn abgesehen von ein paar Videobotschaften am Anfang des Films muss | |
sie die Tote spielen. Sie ist aber immer präsent, weil ihr Körper in den | |
verschiedenen Autos herumsitzt, herumliegt, oder gepackt wird (für den Sarg | |
ist kein Platz). Da bekommt das Prinzip des minimalistischen Spielens eine | |
ganz neue Bedeutung – und sie hält tatsächlich immer überzeugend still. | |
Wirklich witzig ist „Over & Out“ selten. Am besten zünden noch die beiden | |
Vibratoren-Gags. Aber die Dialoge sind lebendig und oft geistreich (Julia | |
Becker hat auch das Drehbuch geschrieben), und nachdem sich die drei Frauen | |
an ihren Lebenslügen und nicht gelebten Sehnsüchten abgearbeitet hatten, | |
sind sie, wie sie sagen „alle gleich am Arsch“ – und bereit für die | |
„nächsten 38 Jahre.“ | |
„Over and Out“, Buch und Regie: Julia Becker, mit Jessica Schwarz, Petra | |
Schmidt-Schaller, Julia Becker, Nora Tschirner und anderen, Deutschland | |
2022, 104 Minuten | |
1 Sep 2022 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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