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# taz.de -- Befreiung und Verschwinden
> Das Fehlen der Frauen in der Geschichte bearbeitet die junge Regisseurin
> Marie Schleef. Zu verfolgen im Ballhaus Ost
Bild: Marie Schleef hat einen bemerkenswerten Start hingelegt
Von Esther Slevogt
In diesem Stück wird viel erzählt, auch wenn kein einziges Wort gesprochen
wird: von Frauen, die in Innenwelten gefangen sind und die sich, statt sich
einen Weg ins Freie zu bahnen, tief in die Wände ihrer Gefängnisse
hineinfantasieren. „Geschichte einer Stunde“ heißt die jüngste Arbeit der
Regisseurin Marie Schleef, die im Januar im Ballhaus Ost herauskam (und
jetzt wieder gezeigt wird): ein Abend, der Motive von zwei Kurzgeschichten
über ungelebtes Frauenleben, die zwei amerikanische Schriftstellerinnen am
Ende des 19. Jahrhunderts schrieben, zu einer klaustrophobischen
Performance verschmilzt: „Die Geschichte einer Stunde“ von Kate Chopin und
„Die gelbe Tapete“ von Charlotte Perkins Gilman.
Marie Schleef hat sich mit erst drei Regiearbeiten einen Namen als luzide
Übersetzerin von Bewusstseinszuständen gemacht, für die sie (im Verbund mit
der Bühnenbildnerin und Videokünstlerin Jule Saworski) komplexe Bilder
findet. In „Die Geschichte einer Stunde“ kann man einer Frau exakt eine
Stunde lang dabei zusehen kann, wie sie ihr Verschwinden organisiert –
während sie sich in dem Wahn befindet, an ihrer Befreiung zu arbeiten.
Darüber hinaus werden größere Denkräume zu Fragen von Frauen und Kunst
geöffnet.
„Die Geschichte einer Stunde“ ist der letzte Teil einer Trilogie über das
Fehlen der Frauen in der Geschichte. Und über Frauen, die nicht mal in
ihrem eigenen Leben vorkommen. Teil zwei dieser Trilogie „Name her. Eine
Suche nach den Frauen+“ (ebenfalls am Ballhaus Ost entstanden) war [1][2021
zum Berliner Theatertreffen] eingeladen: vor einem megalomanen
Smartphone-Triptychon ging in einem aberwitzigen One-Woman-Show-Marathon
(wie auch „Geschichte einer Stunde“, gespielt von Anne Tismer) eine
alternative Weltgeschichte der verschwiegenen und vergessenen Frauen über
die Bretter.
Teil eins der Trilogie, „Die Fahrt zum Leuchtturm“ nach einem Roman
Virginia Woolf, war Marie Schleefs Diplominszenierung. 2018 schloss sie mit
dem Abend, der in der Berliner Volksbühne herauskam, ihr Regiestudium an
der Hochschule für Schauspielkunst (HfS) Ernst Busch ab. Man kann also
sagen, dass hier eine junge Regisseurin einen ziemlich bemerkenswerten
Start hingelegt hat – mit einem gedankenreichen wie hochpräzisen und
bildmächtigen Theater, für das Sprache nur ein Mittel unter anderen ist.
Vielleicht habe ihr anderes Verständnis von Sprache mit der Tatsache zu
tun, dass sie in einem mehrsprachigen Haushalt aufgewachsen ist, erzählt
sie im Gespräch, dass den Zeitumständen entsprechend per Video stattfindet.
1990 in Göttingen als Tochter eines deutschen Vaters und einer
französisch-italienischen Mutter geboren, wuchs sie mit drei Sprachen auf.
Als sie acht war, zog die Familie ins österreichische Graz. Mit 17 ging sie
für die letzten beiden Jahre vor dem Baccalaureate (IB) aufs Internat nach
Eswatini (Swasiland) in Südafrika. Dort hatte sie Theater als
Unterrichtsfach und lernte Theaterformen kennen, „die nicht groß von
Sprache markiert waren“. Statt nach Graz und in den deutschsprachigen Raum
zurückzukehren, zog sie nach der Schule direkt nach New York, um am
Bard-College Schauspiel zu studieren. Hier begegnete sie einem
interdisziplinären Theaterverständnis, hatte Lehrerinnen wie die
Regisseurin und Autorin JoAnne Akalaitis und merkte bald, dass sie mehr
wollte als nur Schauspielerin sein.
Die nächste Station war die HfS Ernst Busch – ein Zurück- und Ankommen, das
Marie Schleef im Gespräch als eine Art Kulturschock beschreibt: Besonders
die tiefe Verankerung der Hochschule in der Geschichte der deutschen
Teilung und die ungebrochene Dominanz von Männern, auch im deutschen
Theaterkanon, die bis in den Habitus der mitstudierenden Regieanwärter
durchschlug, befremdeten sie. Da sei viel über dominante Körpersprache und
Ausstrahlung gelaufen, erzählt sie nun. „Ich musste immer viel stärker
inhaltlich werden, um Leute zu überzeugen.“
Folgerichtig hat sie sich eine Frau gesucht, um das Regie-Handwerk auch in
der Praxis zu lernen: Sie wurde Regieassistentin von Susanne Kennedy,
arbeitete an berühmten Inszenierungen wie „Women In Trouble“, „Comming
Society“ und „Virgin Suicides“ mit.
Es war die Zeit, als Chris Dercon Intendant der Volksbühne war, von dem sie
sagt, er sei der „netteste Chef gewesen, den ich je hatte“. Zwei Wochen
nachdem sie als Regieassistentin angefangen hatte, traf sie Dercon einmal
auf dem Hof in der Volksbühne. Er begrüßte sie mit Namen und machte eine
positive Bemerkung über ihre Arbeit. „Ich fühlte mich gemeint, auch weil an
der Volksbühne so viele Frauen arbeiteten.“ Anne Tismer zum Beispiel, die
damals zum Ensemble der Dercon-Volksbühne gehörte. Zusammen mit Tismer hat
Marie Schleef in der Volksbühne auch in Jérome Bels Laientanz-Performance
„The Show must go on“ mitgetanzt.
Aktuell arbeitet sie am Schauspiel Köln an einer Stückentwicklung auf der
Grundlage von Science-Fiction- und Horrorliteratur von Frauen. Am Ballhaus
Ost ist jetzt noch mal „Die Geschichte einer Stunde“ zu sehen, die vom
Horror eines ungelebten Lebens und nicht genutzter Möglichkeiten erzählt.
Und zwar in überirdisch schönen Bildern von präraffaelitischer Morbidezza.
Ballhaus Ost, 10.–12. März, „Die Geschichte einer Stunde“
10 Mar 2022
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## AUTOREN
Esther Slevogt
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