# taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Julia Hubernagel: Fear and Loathing in C… | |
Charlottenburg ist mir immer irgendwie suspekt. In das Gebiet zwischen | |
Ku’damm und Mierendorffinsel zieht mich höchstens mal ein Galeriebesuch. | |
Kürzlich ist J. jedoch nach Potsdam gezogen, und so treffen wir uns in der | |
Mitte, zwischen Potsdam und dem Nordosten Berlins, wo der Rest von uns | |
wohnt. Die Mitte, das war dann wohl das C/O Berlin am Bahnhof Zoo und so | |
schauen wir uns an diesem regnerischen Samstag die | |
Lee-Friedlander-Ausstellung an. | |
Friedlander fängt seit mittlerweile sechs Jahrzehnten das US-Alltagsleben | |
mit der Kamera ein. Eigentlich sind die Bilder ereignislos, wie im | |
Vorbeigehen aufgenommen, beim Warten auf den Bus oder in einem Hotelbett | |
liegend. Ein Foto fasziniert mich: Eine Frau mit glänzendem Haarschopf | |
schaut einem Pferderennen zu, wir sehen nur ihren Hinterkopf. Auf ihrer | |
Rückenlehne liegt eine dicke, stark behaarte Männerhand auf der Lauer, wie | |
ein Tier, bereit, die Frau anzugreifen. Die Armbanduhr schneidet ins | |
Fleisch. „The Kentucky Derby is decadent and depraved“, denke ich und | |
überlege, ob es für Gonzojournalismus ein Äquivalent in der Fotografie | |
gibt. | |
Ich starte eine Google-Suche, stoße aber nur auf Bilder einer Muppetfigur | |
mit gleichem Namen. Die begeistert sich für Stuntshows und | |
Performance-Kunst und leidet unter ihrer ungeklärten Artgenossenschaft. | |
Interessant, denke ich, während ich weiter durch die Ausstellungsräume | |
stolpere, aber immerhin dürfte ihre Geschlechtsidentität unzweideutig | |
sein, Gonzo, das schreit doch immer nach Männlichkeit. | |
„Was wollen wir essen?“, fragt J, als wir draußen stehen. „Was Günstige… | |
sage ich. Während wir Nudelsuppe schlürfen, erzählt J2 von der | |
Fritz-Bauer-Ausstellung; der Mann scheint ihn beeindruckt zu haben. | |
Verständlich, J2 ist Jurist, also fast, und damit der einzige meiner | |
Freund:innen, der etwas Sinnvolles studiert hat, nicht nur Lesen und | |
Schreiben, wie, nun ja, der Rest von uns. Praktisch ist es auch und ich | |
überlege, ob ich die nur halblegale Kartoffel-Aktion noch mal ansprechen | |
soll, als J3 vor dem Restaurant vom Fahrrad steigt. Man kann es nicht | |
anders sagen, in den 1990ern war man wenig kreativ mit der Namensgebung. | |
Ich bin dann wohl J4. | |
Den Bauch voller Suppe machen wir uns durch die noch frische Berliner Kälte | |
auf den Weg zu einem weiteren touristischen Highlight Charlottenburg: dem | |
Klo. Das Klo soll eine Art Scherzkneipe sein, und die Klobürsten an der | |
Decke können als Deko ja noch eventuell als witzig gelten, aber danach hört | |
der Spaß schon wieder auf. Wie nett, dass hier Junge und Alte gemischt | |
sitzen, denke ich noch, bevor ich erstarre, als ich den „DJ“ durchs | |
Mikrofon höre. Wie auf dem Rummel unterbricht er die ebenfalls fragwürdige | |
Musikauswahl immer wieder, doch statt die nächste Fahrt anzusagen, | |
kommentiert er lieber das Aussehen der Gäste. Ich fühle mich an eine fast | |
vergessene Fernsehwelt erinnert, als Witze über Frauen und Minderheiten als | |
legitime Comedy-Einlage galten. | |
Die Gäste scheint es nicht zu stören, sie grölen und lachen; schlechter | |
Geschmack kennt keine Altersgrenzen, denke ich, während wir geschlossen die | |
Gläser herunterstürzen. Das Bier wird übrigens in Urin-Enten serviert, man | |
hätte es ahnen können, bei dem Namen, den Preis allerdings nicht. | |
Keine Experimente mehr, beschließen wir, und verbringen schließlich noch | |
einen lustigen Abend im Wirtshaus Wuppke, glaube ich, bevor wir uns auf den | |
Heimweg machen, der wirklich für alle gleich lang ist. Ich weiß das, ich | |
rechne es am nächsten Morgen nach, als ich mit brummendem Kopf im Bett | |
liege. J1 zieht übrigens bald wieder um, berufsbedingt, nach Frankfurt | |
(Oder). Ja, wir konnten es auch kaum glauben. Dort auf halber Strecke etwas | |
zu finden, wird schwierig. Was wäre das, Fürstenwalde? Wir müssen wohl | |
einfach mal hinfahren, ihn besuchen, in diesem zweiten, kleinen Frankfurt. | |
Mal was Neues, Horizont erweitern oder so ähnlich. | |
9 Nov 2021 | |
## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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