Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Das Leben hört niemals auf zu gehen
> Hungrig nach Veränderung sind beide, Cem aus Neukölln, Lisa aus Marzahn.
> Ihre Geschichte erzählt „Berlin Karl-Marx-Platz“ von Hakan Savaş Mican …
> der Neuköllner Oper
Von Katrin Bettina Müller
„Als ich noch jung war, hatte alles seine Seite, seine Nähen, seine Weite.
Als ich noch jung war, war alles mein Weg, ein Traum, ein Lied, ein Steg.
Als ich noch jung war, da dacht ich, das Leben hört niemals auf zu gehen.“
Wenn Lisas Großmutter Gaby diese Zeilen singt, dann ahnt man schon, wie das
Leben auf die Enttäuschung zuschlittert.
Hakan Savaş Mican, Autor und Regisseur aus Berlin, hat für „Berlin
Karl-Marx-Platz“ erstmals Lieder geschrieben. Mit „[1][Berlin
Oranienplatz“] (am 27. Oktober wieder im Gorki Theater) und „Berlin
Kleistpark“ (Uraufführung im Gorki im Dezember) bildet das Stück eine
Trilogie von gelingenden und scheiternden Geschichten vom Aufstieg. Dabei
geht es immer auch um zwei Generationen, um Söhne, die nicht die Träume
ihrer Eltern leben wollen.
„Berlin Karl-Marx-Platz“ wurde nun nicht im Gorki, sondern von Hakan Savaş
Mican selbst in der Neuköllner Oper inszeniert, eine Band begleitet die
Szenen. Die Geschichte beginnt 1990, nach dem Mauerfall. Cem aus Neukölln
hat das Abi geschafft und kann, der Stolz seiner Mutter Esma, Medizin
studieren, macht aber lieber Graffiti. Lisa aus Marzahn lebt bei ihrer
Großmutter, Sängerin auf den Opernbühnen der DDR, die Lisa gerne bis zur
Mailänder Scala bringen will – aber Lisa macht lieber Geschäfte. Cem und
Lisa verlieben sich.
Die Inszenierung beginnt etwas hölzern und plakativ, anfangs nimmt man nur
die Klischees wahr. Aber das ändert sich bald, die Geschichte nimmt
überraschende Wendungen. Da ist die Erfahrung des Nicht-ankommen-Könnens
und der eigenen Unruhe, die Cem und Lisa teilen. Beide sind zunächst
begeistert von den Veränderungen nach dem Mauerfall und leiden dann doch
unter Fremdheitsgefühlen. Wie Hakan Savaş Mican Parallelen entdeckt
zwischen der türkisch-migrantischen Erfahrung und der Herkunft aus dem
Osten, ist verblüffend. Ohne dass dabei die Vorurteile unter den Tisch
fallen.
Hasan H. Taşgın, Quereinsteiger, der an der Akademie der Autodidakten am
Ballhaus Naunynstraße lernte, spielt Cem mit großem Charme. Er ist anfangs
von sich selbst besoffen und seinen Möglichkeiten, versucht eine Laufbahn
als Graphic-Novel-Autor, muss viele Ablehnungen überstehen und ist am Ende
Zeichenlehrer bei der VHS. Da haben Lisa und er schon eine Tochter, und
Vater ist sein Hauptberuf. Denn Lisa, von Alida Stricker mit viel
Enthusiasmus und Naivität ausgestattet, treibt es einfach um. Einmal bis in
die USA, um die angeblich aus der DDR getürmten Eltern zu suchen, die aber
bei der Flucht erschossen wurden. Sie versucht über die Jahre immer wieder
neue Geschäftsmodelle, bleibt bei nichts. Die Künstlerträume beider sind
früh zerschellt.
Keine der Figuren ist ganz bei sich, sie hetzen zwischen Möglichkeiten,
laufen aneinander vorbei. Die Uneinheitlichkeit der Charaktere wirkt in dem
Stück wie ein Spiegel der Umbruchszeit und der Familiengeschichten mit
ihren vielen nicht erfüllten Sehnsüchten. Das Gemischte und Kolportierte
macht auch die Musik aus, die Jörg Gollasch für die Band auf der Bühne
komponiert hat, aus Klangfarben türkischer Tradition, aus dem romantischen
Lied, aus Brecht-Weill-Anleihen, aus Jazz. Mehr als der bewusst
auseinanderdriftende Sound halten die Videos von Sebastian Lempe die
Inszenierung zusammen, Panoramen aus Marzahn, vom Leben auf der
Karl-Marx-Straße in Neukölln, von Skatern auf dem Tempelhofer Feld.
Wieder 22.–24., 28.–31. Oktober, 20 Uhr in der Neuköllner Oper
21 Oct 2021
## LINKS
[1] /!5706378&SuchRahmen=Print
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.