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# taz.de -- Sensibilität als Zivilisationsmotor
> In ihrem Buch „Sensibel“ zeichnet die Autorin Svenja Flaßpöhler
> Entwicklungslinien nach, die zu heutigen Identitäts-, Gender- und
> Zumutbarkeitsdiskursen geführt haben
Bild: Sensibel und schön: Mimose, auch schamhafte Sinnpflanze genannt
Von Katharina Granzin
Es ist kompliziert mit der menschlichen Empfindungsfähigkeit.
„Sensibilität“ wird heutzutage allgemein als wünschenswerte Eigenschaft
betrachtet, aber ein „Sensibelchen“ möchte niemand gern genannt werden.
„Empfindsam“ zu sein wiederum liegt im Gefühlsranking fast mit der
Sensibilität gleichauf (wobei letztere im Unterschied zu ersterer auch
soziale Konnotationen besitzt); wer aber „empfindlich“ ist, hat der
Empfindungen vielleicht schon zu viele.
Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des Philosophie Magazins, durchwandert
in ihrem neuen Buch einen kultur- und geistesgeschichtlichen Parcours vom
frühen Mittelalter bis in die Gegenwart, um zu verfolgen, wie die
Empfindungsfähigkeit und ihre sozialen Funktionen sich entwickelt und im
Laufe der Jahrhunderte gewandelt haben.
Ein wichtiger Begleiter dabei ist Norbert Elias, der in „Über den Prozess
der Zivilisation“ gezeigt hat, wie die Verfeinerung der Sitten, mithin die
zunehmende Sensibilisierung für ein auskömmliches Miteinander, einherging
mit der Notwendigkeit der Triebunterdrückung. Flaßpöhler beginnt den
historischen Parcours mit dem amüsanten Vergleich zweier fiktiver
Lebensgeschichten und stellt einen Ritter Johan aus dem 11. Jahrhundert,
der hemmungslos seine körperlichen Triebe ausagiert und das
gewohnheitsmäßige Ausüben brutaler Gewalt als sein gutes Recht betrachtet,
einem heutigen Jan gegenüber, der vegetarisch lebt, seine Kinder gewaltfrei
und gleichberechtigt mit seiner Frau erzieht und nicht Auto fährt, weil das
dem Klima schadet.
Und wenn Johan und Jan insgesamt auch satirisch überzeichnete Figuren sind,
so gelingt es der Autorin mit ihrer kleinen Geschichte doch, auf einen
Schlag zu verdeutlichen, was Norbert Elias auf tausend Seiten
herausgearbeitet hat: Wie weit die abendländische Gesellschaft tatsächlich
schon gekommen ist.
Eigentlich. Andererseits hatte Flaßpöhler bereits auf der ersten Seite für
unsere heutige Situation festgestellt: „Offenbar sind wir mehr denn je
damit beschäftigt, das Limit des Zumutbaren neu zu justieren.“ Und deswegen
trifft dieses Buch, das mit seinem Querschnitt durch vorherige
Justierungsbewegungen auch unsere heutigen Bemühungen erhellt, einen
wichtigen Nerv der Zeit.
Gestiegene Sensibilität als Zivilisationsmotor: Dieser Zusammenhang lässt
sich ganz besonders für das 18. Jahrhundert als „Zeitalter der
Empfindsamkeit“ feststellen, das auch einen enormen Aufschwung für die
Literatur brachte. Das Verbalisieren von und vor allem das Schreiben über
Gefühle öffnete das Denken der Menschen für andere Sichtweisen. Männer
schrieben Romane über Frauenschicksale, Frauen begannen zunehmend
selbstbewusst ihre Menschenrechte einzufordern – die artikulierte
Empfindsamkeit bewirkte viel für die Idee der freien Entfaltung des
Individuums und das politische Ideal der bürgerlichen Gleichheit.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist es dann Sigmund Freud, der in Gesprächen
jenem inneren Prozess der Triebunterdrückung, den Norbert Elias als
Zivilisationsbedingung beschreibt, auf den Grund geht, um verdrängte
Gefühle freizulegen und dadurch Heilung der durch Neurosen versehrten
Psyche zu erreichen. „Das Archaische in uns ist für Freud“, schreibt
Flaßpöhler, „mit der Kraft der Resilienz tief verbunden.“ Resilienz ist
der zweite, der Sensibilität entgegenstellte Schlüsselbegriff – wohlgemerkt
nicht als ihr „kaltes“ Gegenteil verstanden, sondern als eine Möglichkeit
der Krisenbewältigung.
Dass Sprechen, dass Sprache generell etwas bewirkt, etwas tut mit dem
Menschen, ist im Kielwasser des philosophischen linguistic turn im 20.
Jahrhundert längst Teil des allgemeinen Bewusstseins geworden. In diesem
Kontext stehen unsere zeitgenössischen Diskurse mit ihren Identitäts- und
Gleichberechtigungsdebatten, ihren, je nach Sichtweise, Sensibilitäten und
Empfindlichkeiten.
Svenja Flaßpöhler stellt diesen Zusammenhang deutlich genug dar, macht aber
auch keinen Hehl daraus, dass sie allzu starre Sprachregelungen im Sinne
der „von ihren Gegnern so genannten political correctness als Rückfall in
ein zu strenges strukturalistisches Denken betrachtet, das jedes Zeichen in
expliziter Abgrenzung zu anderen Zeichen definiert, während der
Poststrukturalismus doch schon längst das sprachliche Zeichen – und damit
den Menschen – von solch rigider Festlegung befreit hat.
Flaßpöhler beruft sich vor allem auf Judith Butler, die auf der
Veränderlichkeit der Zeichen beharrt. „Dem Kampf um Bezeichnungen“,
schreibt Flaßpöhler mit Butler im Rücken, „wohnt die Dialektik inne, dass
er festschreibt, anstatt Identitäten spielerisch aufzulösen,
beziehungsweise als rein performativ zu entlarven.“
Die [1][#MeToo-Bewegung, zu der Svenja Flaßpöhler sich zu früherer
Gelegenheit streitbar geäußert hat], berührt sie in „Sensibel“ nur am
Rande. Polemik hat in diesem Buch keinen Platz; die Autorin lässt zwar
Meinungsstärke erkennen, wo es mal passt, beharrt jedoch nicht auf eigenen
Argumentationsketten, sondern ist sehr bemüht um die Integration
unterschiedlicher Perspektiven. Das ist schließlich auch eine Frage der
Sensibilität.
30 Oct 2021
## LINKS
[1] /Ein-Jahr-MeToo/!5540427&s=fla%C3%9Fp%C3%B6hler/
## AUTOREN
Katharina Granzin
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