# taz.de -- Die große Bergedofer APO-logie | |
> Sich den kritischen Fragen auch der Bergedorfer außerparlamentarischen | |
> Opposition stellen? Da setzte Bundestagskandidat Helmut Schmidt (SPD) | |
> doch lieber auf effiziente Wasserwerfer gegen alle und jeden: Der | |
> Historiker Arne Andersen hat untersucht, worin die Besonderheit der APO | |
> im eigenständigen Südosten Hamburgs bestand – und ist dafür auch in seine | |
> eigenen Jugendjahre eingetaucht | |
Bild: Im Promi-Lokal „Kuhberg“ fühlte sich Helmut Schmidt sicher, auch wen… | |
Von Frank Keil | |
Helmut Schmidt kommt damals übers Wasser. Ist irgendwo auf dem | |
Schleusengraben, der von der Dove-Elbe Richtung Bergedorf führt, in ein | |
Polizei- oder Feuerwehrboot gesetzt worden, war dann den schmalen Kanal | |
nordwärts entlanggefahren und nimmt dann den Hintereingang zum im Herzen | |
von Bergedorf gelegen Lichtwarkhaus, dem örtlichen Veranstaltungszentrum. | |
Ab 19 Uhr soll er dort am 26. August 1969 im großen Saal sprechen. Doch | |
bereits eine Stunde zuvor sind alle Stühle vergeben, überwiegend besetzt | |
mit bestellt Angereisten aus Hamburg. Auf der Straße davor aber warten rund | |
2.000 Bergedorfer Bürger und Bürgerinnen: Sie wollen dabei sein, wenn sich | |
der einstige Hamburger Innensenator und sagenumwobene Sturmflut-Bezwinger | |
um das Bergedorfer Bundestagsmandat im Deutschen Bundestag in Bonn bewirbt, | |
wo er doch selbst im fernen Langenhorn wohnt, also in Hamburg-Nord. | |
Denn Bergedorf und Hamburg, das ist und bleibt eine ganz eigene Geschichte: | |
Bergedorf stand zwar bereits seit dem Jahr 1420, wenn auch als eigene | |
Stadt, unter Hamburgischer Verwaltung, kam aber 1938 mit dem | |
Großhamburg-Gesetz mit letzten Formalien und Details endgültig zur | |
Hansestadt, ist Hamburger Bezirk, doch bis heute fremdeln die | |
Bergedorfer:innen mit Hamburg, und Bergedorf bleibt Bergedorf und wird | |
es wohl immer bleiben. | |
Wir stehen an der Kreuzung Bergedorfer Straße/Vierlandenstraße, an | |
historischem Ort. Denn hier stand damals auch Arne Andersen inmitten seiner | |
Genoss:innen, Aktivisten eines losen, aber ernsthaften Netzwerkes namens | |
„Bergedorfer APO“, über die Helmut Schmidt so geurteilt hatte: „Ich kenne | |
die APO Bergedorf. Ich habe sie lieber draußen als im Saal.“ Nun sind die | |
APO-Leute etwas ratlos: „Wir hatten dazu aufgerufen, Schmidt zur Rede zu | |
stellen, aber das war nun nicht möglich“, sagt Andersen. Was macht man in | |
einer solchen Situation? | |
Man machte das, was man damals eben tat: Man organisiert eine | |
Demonstration. „Wir zogen los, obwohl sonst kein Mensch auf der Straße war, | |
erst mal zum Rathaus, wo natürlich keiner mehr war, der hätte unseren | |
Protest auch nur zur Kenntnis nehmen können.“ Dann zieht die Menge wieder | |
zurück zum Lichtwarkhaus, wo Schmidt seine Rede beendet hat und die | |
SPD-Leute nach und nach in die Busse steigen, nun umringt von den | |
Bergedorfern, für viele war es vermutlich die erste Demonstration in ihrem | |
Leben. „Wir stellten uns um einen der Busse und wippten den so sachte hin | |
und her“, erinnert sich Andersen mit wachsender Erzählfreude: „Und die | |
Bergedorfer standen drum herum und schauten interessiert zu.“ Dann kommen | |
die Wasserwerfer. | |
„Wir wussten, was ein Wasserwerfer ist“, erzählt Andersen weiter: „Und so | |
schoben wir uns langsam in die dritte und vierte Reihe, während die | |
Bergedorfer weiterhin schauten, was da vorne wohl passiert.“ Bald würden | |
auch die Bergedorfer wissen, was ein Wasserwerfer ist, und vor allem, was | |
er kann. | |
Die örtliche Bergedorfer Zeitung quoll in den nächsten Tagen über vor | |
empörten Leserbriefen, die Sache mit den durchnässten Bergedorfern machte | |
überregional die Runde. Schmidt musste sich entschuldigen, schaltete | |
Anzeigen bis hin zum Spiegel, bat dennoch um Vertrauen und Stimme, was | |
übrigens klappte: 12 Jahre lang wird Helmut Schmidt die Bergedorfer | |
parlamentarisch vertreten. „Doch bis heute kann sich jeder aus Bergedorf, | |
der damals dabei gewesen ist, an jenen Abend erinnern“, sagt Andersen noch. | |
„Die Bergedorfer APO“ heißt schnörkellos sein Buch, das diese und noch | |
viele andere Geschichten erzählt und sie vor allem in den historischen | |
Kontext von Nachkriegs-Ödnis, Wohlstands-Sattheit, notwendigem | |
gesellschaftlichem Aufbruch, von Jugendbegehren und also 68er-Revolte | |
einordnet; auch der Untertitel bewegt sich nicht ins Lyrische, enthält aber | |
eine leichte Provokation den Bergedorfern gegenüber, nämlich: „Politischer | |
Protest in der Hamburger Provinz“.Andersen bietet dabei eine Fülle an | |
Fakten und Hintergründen, gespickt mit Auszügen aus Materialien wie | |
Zeitzeugen-Interviews, wobei er zwischen Analyse und Bericht hin und her | |
switcht, was in der Natur des Autors liegt: „Ich bin Historiker, aber ich | |
war damals auch dabei.“ Andersen ist seinerzeit Schüler, er geht auf die | |
Hansa-Schule, ein Gymnasium. Wo es damals ebenfalls bald hoch her geht; wo | |
es die Schüler-, Eltern- wie Lehrerschaft etwa durchschüttelt, als manche | |
der Lehrer besondere Spitznamen erhalten wie „Gestapo-Müller“. | |
„Wir wussten nicht, ob der Lehrer Heinz Müller bei der Gestapo gewesen war; | |
wahrscheinlich war er es nicht“, sagt Andersen rückblickend. Doch die | |
damalige Resolutheit hat ihren Grund: „Wir hatten noch Lehrer, die uns | |
erzählt haben: ‚Ich habe sechs Russen mit dem Spaten erschlagen!‘“ Er se… | |
eine Pause: „Und da wurde eine Begrifflichkeit gesucht, und also waren das | |
alles Nazis, auch wenn mancher von ihnen nur ein strammer Konservativer | |
war.“ Diese Zuspitzung durch Vereinfachung galt auch fürs Große: „Auch die | |
bürgerlichen Parteien wurden von uns mit dem Begriff ‚Faschismus‘ belegt, | |
wo man später dachte: ‚Okay, ein bisschen mehr Präzisierung hätte der Sache | |
gutgetan‘.“ Doch sie hatten damals ein Gefühl: „Es muss klar bezeichnet | |
werden.“ | |
## Innere kulturelle Dynamik | |
Andersen beschreibt aber auch die inneren Dynamiken der Bergedorfer | |
APO-Szene, nimmt uns mit in die erste Wohngemeinschaft, die sich gründete, | |
erzählt von den verschiedenen Arbeitskreisen, die sich gründeten – etwa vom | |
Frauen-AK, dem Faschismus-AK, über den AK Wirtschaft und Betriebe bis zur | |
eigenen Zeitschrift namens APOTheke, weil es im APO-eigenen Treffpunkt eine | |
Theke gibt. Erzählt auch von der damaligen Musik- und Ausgehszene, wie der | |
von ihnen auserkorenen Stammkneipe, Ecke Wiebekingweg/Hinterm Graben, wo | |
wir kurz halten: die Kneipe von Meta. „Wegen Meta-Ebene“, scherzt Andersen, | |
klärt dann auf: „Wir hatten uns diese Kneipe ausgewählt, weil sie zentral | |
lag und etwas Ursprüngliches hatte; sie war ein bisschen angeranzt und | |
hinterm Tresen stand Meta.“ Wo man sich nach den manchmal endlosen | |
Diskussionen erholt: „Wenn wir nach unseren Plenen zu Meta gingen, wo es | |
Mettbrötchen und Buletten gab, war das die After-Work-Party.“ | |
Wir gehen Richtung Fußgängerzone, biegen ab zum Bergedorfer Schloss, in dem | |
neben einem Museum auch das Standesamt Platz gefunden hat: Gerade wird | |
geheiratet, eine Hochzeitsgesellschaft verteilt sich ausgelassen über die | |
Schlosswiese. Weiter geht es durch den Park Richtung Chrysanderstraße, wo | |
sich das bürgerliche Bergedorfer Villenviertel erstreckt und wo wir im | |
schönen Garten eines Cafés sitzen, während im Inneren eine | |
Trauergemeinschaft auf Kaffee und Kuchen wartet – so nah liegt das alles | |
manchmal beieinander. | |
## Eine im besten Sinne liberale Zeitung | |
Andersen nimmt einen Schluck Kaffee: „Das Besondere an der Bergedorfer APO | |
war, dass sie nicht allein von Studenten bestimmt war. Sondern genauso | |
haben sich Schüler und Schülerinnen, junge Arbeiter oder die Lehrlinge von | |
der Maschinenfabrik Hauni beteiligt.“ Und dann eben Bergedorf: ein | |
Städtchen, nicht zu klein und nicht zu groß, sodass jeder jeden kennt und | |
man sich doch aus dem Weg gehen kann, um sich nach etwas Abstand wieder zu | |
begegnen: „Wir haben das Bergedorfer Bürgertum damals schon angekratzt“, | |
sagt Andersen. Und – wichtig – es hat sich ankratzen lassen. | |
Lob findet Andersen für die damals wichtige Bergedorfer Zeitung: „Es war | |
eine im besten Sinne liberale Tageszeitung, die alle unsere Erklärungen | |
abgedruckt hat.“ Was immer wieder dafür sorgt, dass die APO-Leute | |
mindestens zu Gehör kommen. Auch, als im Juni 1969 erst die Aula der | |
Hansa-Schule durch Brandstiftung zerstört wird und bald eine Holzhandlung | |
folgt. Zwei führende APO-Leute sind sofort als Täter ausgemacht, von wegen: | |
Die müssen das gewesen sein, also waren sie es. | |
Überführt werden schließlich zwei Schüler aus besserem Hause. Die | |
Bergedorfer Zeitung druckt die Erklärungen der fälschlich Verdächtigten und | |
kurzzeitig Verhafteten ab – und weist ausdrücklich darauf hin, dass ihnen | |
Unrecht geschehen sei; keine Kleinigkeit damals. So entfaltet sich nach und | |
nach das Panorama einer spezifischen wie allgemeingültigen Bewegung, immer | |
wieder garniert mit vielen Nebensträngen und auch im Rückblick von einer | |
Gewissheit getragen, die einen heute staunen lässt: wie ernst man sich | |
selbst und die Sache mit der bevorstehenden Revolution doch genommen hat. | |
Immer wieder aber blitzen auch lokale Besonderheiten auf, bis ganz zum | |
Schluss: Als sich die Bergedorfer APO im Frühjahr 1970 auflöst und die | |
einen unbeirrt zur DKP laufen, die anderen sich im entstehenden Gewirr aus | |
linken bis subkulturellen Kleinorganisationen neu orientieren, teilen sie | |
das noch verbliebene Geld auf Mark und Pfennig untereinander auf. Ohne | |
Streit, ohne Ärger. | |
Arne Andersen: „Die Bergedorfer APO – Politischer Protest in der Hamburger | |
Provinz“, Kultur- & Geschichtskontor, Hamburg, 2021, 264 Seiten, 14,90 Euro | |
7 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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