# taz.de -- Etwas ist geschehen | |
> Spuren der Veränderung verbinden die Zeichnungen von Tony Cragg mit | |
> seinen Skulpturen in einer Ausstellung im Haus am Waldsee. Seine | |
> Leiterin, Katja Blomberg, nimmt nach 16 Jahren erfolgreicher Tätigkeit | |
> vorzeitig Abschied | |
Bild: Tony Cragg, Manipulations, 2005, Wasserfarben, 37,5 x 53,5 cm | |
Von Katrin Bettina Müller | |
1991 war der britische Bildhauer Tony Cragg schon ein international | |
bekannter Künstler, Professor an der Kunstakademie Düsseldorf, der auf den | |
Biennalen von Venedig und Sidney und auf der documenta in Kassel | |
ausgestellt und in England den Turner-Preis erhalten hatte. Aus diesem Jahr | |
stammt eine Serie von Radierungen, „The First Era“, in der Flammen über den | |
dunklen Grund tanzen, die Luft über Öfen und Hämmern vor Hitze vibriert und | |
glühendes Metall aus Kellen läuft. Elementare Kräfte sind am Werk in diesen | |
dunklen Grafiken, die jetzt im Obergeschoss des Hauses am Waldsee zu sehen | |
sind. | |
In der Ausstellung „Drawing as Continuum“, die neben kleineren Skulpturen | |
des Bildhauers 200 grafische Blätter vorstellt, ist eine solche Konkretion, | |
ein direkter Blick auf die handwerklichen Prozesse, zwar eine Ausnahme, | |
aber die Radierungen stimmen gut ein auf die Begegnung mit einem Künstler, | |
für den die Eigenschaften des Materials, die Prozesse der Herstellung immer | |
Teil dessen sind, was seine Werke thematisieren. In einer blassen | |
Bleistiftzeichnung sitzt ein Paar auf einem Sofa, vor sich ein Tisch mit | |
Schüsseln. Über das ganze Blatt sind Linien gezogen, kleine Wirbel | |
streuseln darüber. Man sieht einen stillen und intimen Moment und zugleich | |
den Versuch, die Energie zu erfassen, die in jedem lebenden Wesen, in jedem | |
gemachten Ding vorhanden ist. Tony Craggs Zeichnungen und seine Skulpturen | |
verbindet, dass sie das Dynamische und Kraftvolle, das in jedem Moment in | |
jeder Zelle, in physikalischen und in chemischen Prozessen, in jedem | |
kleinsten Partikel am Werk ist, in die Darstellung mit hineinzunehmen. | |
Da gibt es Zeichnungen von Feldern aus konzentrischen Ringen, die sich | |
bedrängen und verformen. Manchmal umfassen dicke Striche den Außenrand | |
eines Volumens, in dessen Innerem es brodelt, als seien unterschiedlich | |
rotierende expansive Kräfte am Werk, die nach außen drücken und die Ränder | |
verschieben. Es macht Sinn, davor eine Skulptur wie „Hollow Head“ (von | |
2013) zu platzieren, die wie eine gesprungene Hülle wirkt, eine zerrissene | |
Haut. Die Formen sind abstrakt und zugleich anthropomorph, man kann sich in | |
die Vorwölbungen eine Kinnpartie, Lippen, Nase und Augenhöhle denken: So | |
entsteht ein Profil, und das nicht nur aus einer Perspektive, sondern von | |
allen Seiten aus. | |
Tony Craggs Bronzen haben eine fast seidenglatte Haut, beim „Hollow Head“ | |
schimmert sie braungrün-bronzefarben. Es ist aus dem Material meist alles | |
Rohe und Raue getilgt, obwohl ihre Formen von gewaltigen Kräften sprechen. | |
Diese äußere Perfektion und das Monumentale vieler Skulpturen, die | |
Ähnlichkeit vieler Formen lassen Craggs Arbeiten manchmal auch sehr | |
routiniert erscheinen. Die Ausstellung im Haus am Waldsee erlaubt aber | |
durch das Zusammenspiel von kleineren Skulpturen und Grafiken, ihre | |
Schönheit wiederzuentdecken. | |
In „Scribe“ (2009) ist etwas sehr Zähflüssiges zu einer dichten, borkigen | |
Masse erstarrt, etwas Waldiges und Verstecktes nistet hier in dunkler | |
Schwere. Wieder passt es, dass diese Skulptur von Zeichnungen umgeben ist, | |
die an große Blätter erinnern oder an die Bewegungen eines Vogelschwarms, | |
der sich ausdehnt oder zusammenzieht. Der Spur von etwas zu folgen, das da | |
war und schon wieder vergangen ist, auch das findet man in Craggs | |
Zeichnungen wie in den Skulpturen. | |
Eine Skulptur im Erdgeschoss, „In Frequenzies“, scheint auf Spitzen zu | |
tanzen, ein Auf und Ab geschichteter Masse. Mit der Zeichnung eines | |
Tannenwaldes verbindet sie das Motiv der Wiederholung, des Echos, der | |
Verschiebung. Etwas, das immer wieder geschieht, aber jedes Mal mit kleinen | |
Veränderungen. Das erinnert an die Phasenverschiebungen in der Minimal | |
Music, und vielleicht sollte man recht besehen „In Frequenzies“ auch als | |
geronnene Musik betrachten. | |
Vor dem Haus am Waldsee steht als Leihgabe des Künstlers die große Skulptur | |
„Venus“. Dass das Haus am Waldsee seinen Garten zu einem Skulpturenpark | |
ausbauen konnte, geht auf die Initiative von Katja Blomberg zurück, seit 16 | |
Jahren Direktorin des Hauses. In acht Monaten wäre ihr Vertrag ausgelaufen, | |
aber am 20. September meldete das Haus, dass sie vorzeitig aufhört. Als | |
Gründe werden Uneinigkeit zwischen ihr und dem Trägerverein vermutet, über | |
die man mehr noch nicht weiß. | |
In ihren ersten Jahren wurde ihr manchmal vorgeworfen, auf internationale | |
und schon bekannte Künstler zu setzen und sich weniger um eine Berliner | |
Szene zu kümmern, die noch keinen Namen hat. Doch sie hat das Haus am | |
Waldsee damit auch aus einer Phase navigiert, als das Fortbestehen wacklig | |
aussah. Eine Würdigung ihrer Leistung am Ende der langen Jahre, die sie das | |
Haus geleitet hat, steht noch aus. | |
Haus am Waldsee, Argentinische Allee 33, Di.–So. 11–18 Uhr, bis 9. Januar | |
2022 | |
4 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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