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# taz.de -- Eisbären in der Zukunft
> Klimawandel plakativ: An der Schaubühne inszeniert Katie Mitchell
> „KeinWeltuntergang“ von Chris Bush
Bild: An der Schaubühne wird Theater aus Ökostrom erzeugt
Von Stefan Hochgesand
Dr. Anna Vogel will einen Job, aber nicht irgendeinen, sondern einen, mit
dem sie die Welt retten kann, zumindest ein bisschen, denn sie ist jung,
idealistisch und hochmotiviert – deshalb spricht sie bei der berühmten
Klimaforscherin Prof. Uta Oberdorf vor, für eine Post-Doc-Stelle an deren
Klimaforschungsinstitut. Könnte nett werden. Wird es aber nicht. Denn der
Professorin und renommierten Institutsleiterin scheint bei ihren
Forschungstrips an den Nordpol das Herz eingefroren zu sein: Sie ist
herablassend bis gehässig-drangsalierend und unpraktischerweise auch noch
ziemlich schlagfertig beim Bewerbungsgespräch von Dr. Anna Vogel.
Und weil diese Szene so schön ungemütlich, aber auf eine perfide Weise auch
reichlich komisch ist, wird sie in „Kein Weltuntergang“ gleich Aberdutzende
Male serviert: Immer und immer wieder wird die Szene auf Anfang
„zurückgespult“, Anna Vogel (Alina Vimbai Strähler) und Uta Oberdorf (Jule
Böwe) verlassen blitzartig die Bühne wieder über die spartanischen
Bühnenbildtüren hinter ihnen, nur um prompt erneut aufzutreten: Tür auf,
Tür zu, wie im Schenkelklopper-Boulevardtheater; dazu flackert dann das
grelle Neonlicht, und es piept und fiept, als wären wir mit Roboter R2D2
auf einem Star-Wars-Raumschiff.
Der Clou: Mit jedem neuen Aufwasch verläuft die Szene anders. Aber
eigentlich immer zu Ungunsten der Bewerberin Anna Vogel: Mal kommt sie zu
spät; dann kommt die Professorin zu spät, behauptet aber, Frau Vogel sei zu
spät gekommen; mal hat sich Anna Vogel, obwohl sie gegenüber wohnt, mit dem
Taxi chauffieren lassen, weil das Wetter so schwül ist, man gönnt sich ja
sonst nichts – das kommt überhaupt nicht gut an bei der Klima-Professorin.
Es bringt Spaß, das mitzuverfolgen, wie Jule Böwe als Professorin das Ekel
gibt und Alina Vimbai Strähler als Bewerberin immer geschickter und
selbstbewusster Kontra gibt.
Dummerweise gibt es da noch eine Leiche, nicht im Keller, sondern in einer
Urne, und irgendwie scheint diese Leiche aus der Zukunft zu stammen, oh
wei: Lena (Veronika Bachfischer) im ärmellosen Trauerkleid und auf
Highheels, drapiert Sonnenblumen, Lilien und Flieder auf der vormals kahlen
Bühne, Rosen und Gerbera (mutmaßlich aus Plastik), derweil sie mit
unterkühlter Stimme eine Grabrede auf ihre tote Mutter hält. Dabei steht
Lena, symmetrisch gestikulierend, im Zentrum der Bühne, zwischen den
Stühlen der Doktorin und der Professorin. Allmählich dämmert es einem: Die
tote Mutter scheint ebenjene Professorin zu sein, die eigentlich „nebenan“
noch mies gelaunt das Bewerbungsgespräch durchführt; Eisbären haben sie
angeknabbert, nachdem sie erfroren war – oder war es umgekehrt?
Die Variation ein und derselben Szene könnte einen an Raumzeit-Anomalien
aus „Star Trek“-Episoden und an „Exercices de style“ (1947) des
französischen Dichters und Dramaturgen Raymond Queneau erinnern, in denen
er 99 Mal dieselbe Szene in einem Bus rauf- und runterspielt. Was bei
Queneau letztlich ästhetischer Kick bleibt, wenn auch schreibhandwerklich
beeindruckend, entwickelt hier im Stück „Kein Weltuntergang“ der britischen
Dramatikerin Chris Bush, Jahrgang 1986, einen lebensphilosophischen
Meta-Mehrwert: Offenkundig geht es ihr darum, auch und gerade im Kontext
ihres Sujets Klimawandel, die menschliche Handlungsfreiheit zu betonen –
die aber eben auch bedeutet, dass klein anmutende Entscheidungen,
Handlungsänderungen, gravierende Konsequenzen haben können. Die
Schmetterlingsflügel aus der Chaostheorie lassen grüßen. Die Britin Katie
Mitchell, einst Hausregisseurin der Royal Shakespeare Company und dem
Berliner Publikum vor allem bekannt durch Einladungen zum Theatertreffen
2009 („Wunschkonzert“) und 2013 („Reise durch die Nacht“), war in der
Vergangenheit eher durch aufwändig getaktete Live-Videos in ihren
Inszenierungen aufgefallen – verzichtet aber diesmal auf
Theater-Trickkisten-Schickschnack;was möglicherweise auch daran liegt, dass
der Strom für Licht und Ton live auf der Bühne auf
Stromgewinnungs-Heimtraining-Fahrrädern produziert werden „muss“ von drei
tapfer strampelnden Radfahrerinnen. Ganz schön plakativ, aber halt auch
konsequent. Laut Programmheft stammen übrigens alle Kostüme und das
Bühnenbild klimaschonend aus dem Fundus.
Nach 95 Minuten kurzweiligen Feedback-Schleifen, Theorieversatzstücken über
Multiversen und das „Hyperobjekt“ Klimawandel und allerlei nicht so
lustigen Funfacts von wassermelonenfarbenem Schnee und Grizzlys, die
Polarbären vögeln (wodurch, beunruhigenderweise, eine neue Spezies
entsteht), hat man eine gehörige Portion Klimawandel-Update um die Ohren
gehauen bekommen und das schlechte Gewissen, den Flugzeugmodus am Handy
lieber öfter im Upcycling-Theater zu nutzen als eigentlich gedacht im
Flugzeug, geht nicht mehr weg.
Vielleicht sollten Handyhersteller den Flugzeugmodus in Theatermodus
umtaufen, das wär’s doch.
Wieder am 7. 9., 9. 9., 10. 9., 11. 9., 13. 9.
7 Sep 2021
## AUTOREN
Stefan Hochgesand
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