# taz.de -- „Nichts kann separat existieren“ | |
> Freitag beginnt das Festival Tanz im August. Ein Gespräch mit der | |
> Leiterin Virve Sutinen über die Vorbereitungen in Zeiten der Pandemie, | |
> die Sorge um die Zukunft. Und das Wetter | |
Bild: Ayelen Parolin kommt am 6. August mit dem Stück „Ruda/Weg“ ins Hebb… | |
Interview Katrin Bettina Müller | |
taz: Frau Sutinen, wie ist zurzeit Ihr Verhältnis zur Wettervorhersage? | |
Virve Sutinen: Sehr intensiv. Wir haben an vieles gedacht, als wir Open Air | |
planten, an Hygieneregeln, Abstand, Sicherheit. Aber nicht an Regen. Aber | |
wenn er kommt, sind wir gewappnet. Die vier Outdoorbühnen haben ein Dach; | |
die Zuschauer brauchen vielleicht eine Regenjacke. | |
Im letzten Jahr musste das Festival Tanz im August ausfallen, wegen der | |
Pandemie. In diesem Jahr kann wieder Programm stattfinden. Vier Projekte | |
sind Open Air programmiert. Was bringt das für Herausforderungen für die | |
Künstler:innen mit sich? | |
Alle Programme sind für die Bühne gemacht und werden jetzt nur in einem | |
anderen Kontext gezeigt. Die Künstler:innen haben sich schon flexibel | |
auf verschiedene Spielorte eingestellt. Was sich aber ändert, ist das | |
Verhältnis zwischen Künstlern und Publikum. | |
Die finnische Choreografin Milla Koistinen zeigt ihr Solo „Breathe“ auf | |
einem Fußballfeld. Ist sie da nicht verloren? | |
Verloren? Sie versucht etwas einzufangen, das womöglich in der Zeit der | |
Pandemie verloren gegangen ist: Das Gefühl der Gemeinschaft, des | |
aufeinander Aufpassens, gemeinsam erlebter Ekstase, etwa im Sport. Wie | |
können wir das wiederfinden mit dem, was wir jetzt haben, das ist ihre | |
Frage. | |
Dieses Jahr sind viele Produktionen dabei von internationalen | |
Choreograf:innen, die in Berlin leben und arbeiten. Darunter Constanza | |
Macras, Choy Ka Fai aus Singapur, Milla Koistinen, Lea Moro, Thiago Granato | |
aus Brasilien und James Batchelor aus Australien. Ist die Entscheidung für | |
diesen Schwerpunkt auch dem Wunsch geschuldet, den Reiseaufwand zu | |
reduzieren? | |
Letztes Jahr, als wir das ganze Live-Festival absagen mussten, das war | |
herzzerreißend. So viele Enttäuschungen, so viele Tränen. Nach dieser | |
Erfahrung haben wir uns dieses Jahr, was das Reisen angeht, auf Europa | |
beschränkt. Und die sicherste Wette sind lokale Compagnien. Wir haben das | |
Glück, in Berlin viele internationale Compagnien vor Ort zu haben, das ist | |
ein Privileg. | |
Auf einer Landkarte der Städte, in denen es dem Tanz gut geht, welche Rolle | |
spielt da Berlin? | |
Die Tanzszene hier ist sehr international im Contemporary Dance. Das | |
Aufregende, neu Entstehende, das mich interessiert, das passiert überall | |
ein wenig; aber es gibt auch Zentren, und davon sind Brüssel und Berlin in | |
Europa wichtig. Hier gibt es nicht den Druck wie in Paris oder London. Aber | |
es gibt eine kritische Masse, genügend Künstler:innen, um einander zu | |
inspirieren, genügend informiertes Publikum. Und viele unterschiedliche | |
Communitys für Tanz auf einem hohen Niveau. Was fehlt, ist eine große | |
Bühne. | |
Die Pandemie haben viele Kulturproduzent:innen nicht nur als | |
Unterbrechung erlebt, sondern auch als Chance, über die globalen | |
Herausforderungen nachzudenken. Spiegelt sich das im Programm? | |
Ja, aber weil die Künstler:innen sich auch schon davor entschieden | |
hatten, sich mit globalen Veränderungen, Postkolonialismus, Klimakrise, | |
posthumaner Zukunft zu beschäftigen. Diese Themen finden sich viel im | |
Programm. Jetzt hat sich das Nachdenken über die Zukunft intensiviert, wie | |
man koproduziert, wenn man Reisen vermeidet, was wird aus den | |
internationalen Touren, da liegen große Frage in der Luft. | |
Ich habe von Chiara Bersanis Projekt gelesen: Da bekommt man ein Paket mit | |
einem Gegenstand und Anweisungen für eine Performance zu Hause? | |
Ja, als wir letztes Jahr über Kapitalismus diskutiert haben, da ging es | |
auch um Teilhabe, wer kann teilnehmen. Es gibt ein potenzielles Publikum, | |
das wir aber nie erreichen können mit unserer Arbeit, weil die Menschen | |
isoliert sind, weil sie nicht zu uns kommen können. Bersanis Projekt ist | |
ein Weg, zu ihnen nach Hause zu kommen. | |
Die letzten anderthalb Jahre haben die Verletzlichkeit des Menschen stärker | |
ins Bewusstsein gerufen, aber auch die Verletzbarkeit unserer | |
gesellschaftlichen Verfassung. Wie reagieren die Tänzer:innen und | |
Choreograf:innen darauf? | |
Die Tanzszene wird Zeit brauchen, sich von dieser Zeit zu erholen. Sie hat | |
keine Institutionen im Rücken, die sie in der Zeit abgesichert und | |
geschützt hätten. Sie braucht nun Unterstützung, auch durch den Staat. Ich | |
glaube, die Künstler:innen wünschen sich nichts so sehr, wie | |
zurückzukönnen auf die Bühne. Das ermöglichen wir, wollen aber alle Risiken | |
vermeiden. Wir haben das Festival sehr sicher gemacht, das Publikum sitzt | |
mit Abstand, obwohl wir teilweise mehr Plätze hätten verkaufen dürfen. | |
Eines der Eröffnungsstücke an diesem Freitag, im Hebbel am Ufer, kommt von | |
der argentinischen Choreografin Ayelen Parolin. Da ist in der Ankündigung | |
auch die Rede vom Tier, das jeder Mensch in sich trägt. Das Verhältnis Tier | |
und Mensch beschäftigt zurzeit viele in der Ökologie, Philosophie, Kunst. | |
Auch einige der Künstler:innen des Programms, Stephanie Thiersch, Anne | |
Nguyen, reden über die Philosophin Donna Haraway als wichtige | |
Impulsgeberin. Ayelen Parolin beschäftigt sich mit Chaostheorie und | |
versucht dahinterzuschauen, wie wir unsere Welt konstruieren. Da ist immer | |
eine Polyphonie, von der wir nur einen Ausschnitt wahrnehmen und in | |
Schachteln einordnen und damit viele der wechselseitigen Abhängigkeiten | |
übersehen. Parolin engagiert sich tief in der Frage, wie man Diversity und | |
Multitude auf der Bühne entstehen lassen kann. Wie kommt man zusammen, | |
trotz aller Unterschiede. | |
Sie sagten schon, dass sich viele Künstler:innen mit Fragen nach der | |
Zukunft beschäftigen. Gibt es Beispiele? | |
Ja, zum Beispiel spielt das Posthumane eine Rolle für das Stück „Ark“ von | |
Colette Sadler und Mikko Gaestel über eine künstliche Intelligenz. Auch | |
Choy Ka Fai mischt Virtualität und Realität, das Heilige und das Profane. | |
Und er bedient sich dafür einer modernen Technologie. Seine Ausstellung | |
„Cosmic-Wander: Expedition“ im Kindl erlaubt einen guten Einblick in seine | |
Forschungen. Auch Lea Moro beschäftigt sich mit möglichen Veränderungen, | |
bei ihr verschwindet die menschliche Form und verschmilzt mit anderen | |
Wesen. Bei Stephanie Thiersch geht es um eine organische Welt, in der sich | |
vieles mischt. Es geht um die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen der | |
organischen und der mechanischen Welt, zwischen unseren Körpern und der | |
Natur. Nichts kann für sich separat existieren. Das Stück begibt sich auf | |
die Suche nach einer anderen als der hierarchischen Ordnung, in der wir | |
jetzt denken, nach der wir jetzt die Welt organisieren. Das betrifft auch | |
das Verhältnis zu den Ressourcen. Wir haben heute schon alle die Ressourcen | |
für dieses Jahr verbraucht. Die kommenden Monate verschwenden wir | |
Ressourcen unserer Zukunft. So beschäftigen sich die Künstler:innen mit | |
der Suche nach einem neuen Bild des Menschen. Denn das, dem wir jetzt | |
folgen, ist zerstörerisch. | |
Sie haben es erwähnt, Sie selbst haben auch viele der eingeladenen Stücke | |
noch nicht gesehen. So wird das Festival auch für Sie überraschend? | |
Teils ja. Einige Stück sind ja auch Weltpremieren. Vieles haben wir nur im | |
Video gesehen. Die Vorbereitung von Tanz im August in der Zeit der | |
Reiseeinschränkungen war eine Herausforderung. Zum Beispiel wollte ich mir | |
das Stück der ruandisch-britischen Choreografin Dorothée Munyaneza in | |
Lausanne anschauen. Wegen Covid-19 sollte es Outdoor stattfinden. Aber dann | |
kamen die heftigen Regenfälle und es wurde eine halbe Stunde vorher | |
abgesagt. Meine erste Reise in diesem Jahr, und dann konnte ich es nicht | |
sehen. Aber wir kennen die meisten Künstler:innen gut, wir haben schon | |
mit ihnen gearbeitet und vertrauen ihnen. | |
5 Aug 2021 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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