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# taz.de -- Von der Verlorenheit des Menschen
> Eigentlich hätte „Die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten“ ins
> vergangene Jahr gehört: als Teil der Feierlichkeiten zum 250. Geburtstag
> des Dichters Friedrich Hölderlin. Nun hat das Schauspielhaus in Hamburg
> damit seinen Post-Pandemie-Betrieb eröffnet. Regisseur Christoph
> Marthaler verarbeitet den literarischen Seelenstress zu einem eigenwillig
> in sich gekehrten Abend
Bild: Herumstehen im kargen Saal: Josefine Israel, Sasha Rau und Lars Rudolph
Von Katrin Ullmann
Zwischendurch abtauchen, nicht erreichbar sein, sich der Welt und aller
Pflichten entziehen – Kapuzentage ausrufen oder besser noch: Kapuzenwochen.
All jene Zivilisationsmüden, bei denen sich dieses Bedürfnis hin und wieder
regt, treten dann eigentlich und unwillkürlich in die Fußstapfen des
griechischen Einsiedlers Hyperion, erfunden 1792 von Friedrich Hölderlin.
Hyperions Lebensgeschichte ist des Dichters literarische Klage gegen das
enge, dumpfe und materialistische Deutschland seiner Zeit, das ihm selbst,
dem Künstler und Idealisten kaum Luft zum Atmen ließ. Hölderlin offenbart
seine tiefe Verzweiflung, seine innere Zerrissenheit, seine Vereinzelung
und seine Melancholie. „Wie war denn ich? War ich nicht wie ein zerrissen
Saitenspiel?“, heißt es im 13. Brief. „Ein wenig tönt ich noch, aber es
waren Todestöne.“
Und es scheint, als stünden jene Themen wie auch das Zitat in nervös
flackernder Leuchtschrift über diesem Abend, mit dem das Hamburger
Schauspielhauses jetzt seinen Spielbetrieb wieder aufgenommen hat. „Die
Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten“ ist die
Christoph-Marthaler-Inszenierung übertitelt. Doch die Benennung ist
trügerisch: Josefine Israel, Sasha Rau, Lars Rudolph und Samuel Weiss
stehen in beigem Cord oder ausladenden Rüschenblusen – Kostüme: Sara
Kittelman – eigentlich recht verloren in Duri Bischoffs karg ausgestattetem
Malersaal.
Die außerdem anwesenden Musiker sind klarer verortet: der eine (Martin
Zeller) zwischen – größtenteils – zerbrochenen Streichinstrumenten in ein…
hinteren Ecke, der andere meist am seitlich stehenden Klavier (Bendix
Dethleffsen). Sie spielen Bach oder Rachmaninow, Schumann oder Beethoven.
Und sie spielen diese Musik unfassbar ruhig und pur und eindringlich, atmen
auf der Viola da Gamba oder dem Klavier Genauigkeit und Gefühl. Die
Schauspieler*innen hingegen umkreisen zunächst wortlos ein paar
herumstehende Stühle, setzen sich schließlich darauf und versenken ihre
Köpfe in Tuba-Koffer – als wollten sie sich vor der Welt verbergen, als
seien sie zu zart und zerbrechlich für diese. Dann, fast abwesend suchend,
sprechen sie abwechselnd Hölderlin-Texte. Sprechen von Albluft und
Wiedersehen, von Freundschaft und Heimat, von Wahrheit, vom Maß der
Begeisterung, vom elastischen Geist und vom Möglichen.
Später singen sie in Schuberts „An die Musik“ von den grauen Stunden, in
denen die Kunst sie in eine bessre Welt entrückte. Ach, damals! All das tun
sie fragend und achtsam, tastend und zögerlich. So, als würden sie dem
Leben nicht trauen, und auch ihren Worten nicht – zumindest nicht darauf,
dass diese ein Echo finden oder eine Resonanz. Meist sprechen sie ruhig und
reglos ins Publikum, mal auch, indem sie ihre Stirn eng an die grauen
Betonwände pressen. Kaum treten die Darsteller*innen miteinander in
Interaktion. Und wenn sie es tun, dann geschieht es eingebunden in eine
strenge Form, die einem bestimmten Ritual zu folgen scheint. Hin und wieder
– es wäre sonst kein Marthaler-Abend – bricht unvermittelt ein Stehpult
oder ein Tisch unter ihnen weg. Dann huscht durch das Publikum, das es sich
auf herrlich gemütlichen Sofas und Sesseln bequem machen darf, ein
vorsichtiges Schmunzeln, weit entfernt von einem befreienden Lachen. Zu
sehr sind diese Figuren in ihren Zwangshandlungen gefangen, zu sehr wölbt
sich menschliche Verunsicherung über diesen melancholischen, nahezu
depressiven und vor allem recht verkopften Abend.
Später werden Geigen mit zerrissenen Saiten tonlos in Position gebracht,
werden Stühle geräuschvoll durch den Raum gezogen, werden die
Kontaktversuche, zu denen Lars Rudolph in seinem karierten Pullunder-Elend
wiederholt ansetzt, wortlos ignoriert. Mit einem zaghaften „Freund, ich
kenn’ mich nicht, ich kenne nimmer die Menschen“ nähert er sich seinen
Mitspieler*innen, die sich rasch und wortlos abwenden. Er fasst seinen
Hilferuf immer kürzer, bis er schließlich ganz verstummt.
Es ist ein andächtiger und damit auch recht spröder Abend, den Regisseur
Christoph Marthaler da geschaffen hat, geprägt vom Innehalten und von der
Verlorenheit des Menschen, der vielleicht nur in der Musik Verzückung
finden kann.
Das zumindest erzählt die Szene, in der die Darsteller*innen sich mit
geschlossenen Augen in einer Bach-Suite ergehen: Dann zuckt Josefine Israel
mit kleinen Bewegungen zur Melodie, dann scheint Samuel Weiss die
Komposition wissend zu dirigieren, dann bewegt Sasha Rau ihre Hände in
flirrenden Schwüngen und verbohrt sich Lars Rudolph neurotisch in den
Akkorden. Dann scheint sich Hölderlins gestresste Dichterseele, die sie ja
alle ein wenig verkörpern, etwas zu beruhigen, findet kurz Frieden in der
Musik. Dann legt sich eine therapeutische Ruhe über den kühlen Raum, an
dessen Wänden ein überdimensionaler Futterspender, eine Tränke und ein
Wetzstein montiert sind. Ein Vogelkäfig – vielleicht für den von Hölderlin
angstvoll bedichteten „Vogel der Nacht“?
Hölderlin wurde im Laufe seines unglücklichen Lebens immer unglücklicher.
1806 wurde er wegen „Raserey“ ins Tübinger Universitätsklinikum geschafft
und 1807 als unheilbar geisteskrank aus diesem entlassen. Den Rest seines
Lebens verbrachte er in Pflege beim Tischlerehepaar Zimmer im Tübinger
Stadtturm. Alle Veranstaltungen zu Ehren seines 250-jährigen Geburtstags am
20. März 2020 mussten vergangenes Jahr abgesagt werden. Vermutlich war auch
diese Premiere für das Jubiläumsjahr geplant. Und doch passt sie, so
eigenwillig in sich gekehrt, fast besser ins nachdenkliche Jetzt.
Weitere Termine: So, 6. 6, 16 + 20 Uhr; Mo, 7. 6., 19.30 Uhr; Sa, 12. 6.,
19.30 Uhr, DSH/Malersaal – für alle Vorstellungen gibt es aber bestenfalls
noch Restkarten
5 Jun 2021
## AUTOREN
Katrin Ullmann
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