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# taz.de -- Es zischt im Schilf
> Die Open-Air-Ausstellung „Terrestrial Assemblage“ blickt auf das
> Verhältnis des Menschen zu seinem Lebensraum im Kapitalozän. Auch beim
> heutigen Symposium stehen Klimawandel und Ländergrenzen im Vordergrund
Bild: Am anderen Ufer lockt das kinetische Klang-Ei Marco Barottis
Von Sabine Weier
Aus einem Schilfbüschel zischt eine Dampfwolke empor, Stahl- und
Holzstelzen tragen großformatige Bilder und mitten im Wasser glänzen
Skulpturen und Installationen unter den ersten warmen Sonnenstrahlen, die
in den Berliner Lockdown dringen. Um die Kunstwerke aus der Nähe zu
betrachten, die jetzt bei der Floating University im Rahmen der Ausstellung
„Terrestrial Assemblage“ zu sehen sind, waten Besucher*innen in
Gummistiefeln vorbei an Blesshühnern durch flaches Wasser. Darin spiegeln
sich ein paar Schäfchenwolken und die Kunst.
In dem von einer baumbewachsenen Böschung umrandeten Rückhaltebecken hat
das Berliner Architekturkollektiv raumlabor vor einigen Jahren Strukturen
für ein anderes Zusammensein gebaut. Über lange Holzstege und Treppen
lassen sich Elemente erschließen, die aus Stahlgerüsten, Holz und dem
Schilf gebaut sind, das am Beckenufer wächst. Städter*innen sollen hier
ein urbanes Leben nach den Betonlandschaften der Moderne und Postmoderne
imaginieren.
[1][Ein Volksentscheid verhinderte 2014 Bebauungspläne am Tempelhofer Feld]
und sorgte damit auch für den Erhalt des Beckens. Nachdem es über 60 Jahre
unzugänglich war, hat sich hier ein quirliges Biotop entwickelt, mit dem
die baulichen Interventionen der Floating University koexistieren. Es ist
ein Ort der „dritten Landschaft“, ein Begriff des französischen
Landschaftsarchitekten Gilles Clément, mit dem er zurückgelassene
städtische oder ländliche Flächen bezeichnet, Übergangsräume, wie Sümpfe
und Ufer, aber auch Straßenränder oder Bahndämme. Lokal entfaltet sich hier
eine alternative Vision des Zusammenlebens vor der Folie des planetarischen
Status quo: Im Kapitalozän, verursacht durch die kapitalistische
Produktionsweise, ist die menschengemachte Klimakrise Dauerzustand,
schwinden Lebensräume für alle Spezies, erweisen sich gängige urbane Praxen
als unzulänglich.
Eine Symbiose von Natur und Kultur schwebt auch der Philosophin Donna
Haraway vor, die dafür plädiert, die Speziesgrenzen im Denken zu
überwinden. Ihre Vorstellung von der „Naturkultur“ ist Ausgangspunkt für
die Teichinstallation Anne Duk Hee Jordans. Als Teil einer seit 2017
fortlaufenden Arbeit entwarf die Künstlerin eine Roboter-Wasserkrabbe, die
daran scheitert, den Müll in den Ozeanen zu beseitigen. Deren Fehlfunktion
ist ein Plädoyer für eine „Artificial Stupidity“ in einem auf
Funktionalität geschliffenen Lebensraum, der das Organische und Zufällige
verdrängt. Einige Meter weiter vibriert ein Ei auf der Wasseroberfläche, es
ist eine kinetische Klangskulptur Marco Barottis. Sie wandelt aus dem
Internet eingespeiste Echtzeitdaten (Geburten- und Sterberaten) in
Bassfrequenzen um; durch die Vibration verändert das Ei kontinuierlich
seine Form.
Dass die Besucher*innen durch kontaminierten Schlamm waten, erfahren
sie mit der Arbeit Folke Köbberlings: Die Künstlerin lässt ihn in
durchsichtigen Behältern durch reinigende Schafswolle sickern. Auf einer
Tafel illustrieren Ergebnisse von Laboranalysen die Schwermetallbelastung
in urbanen Räumen.
Shira Wachsmann beschäftigt sich in einer Videoarbeit mit den akustischen
Befindlichkeiten eines Kaktusgewächses, das je im palästinensischen und
israelischen Kontext unterschiedliche politische Bedeutungen annimmt.
Clemens Wilhelm reflektiert in einem Film ausgehend von einer 13.000 Jahre
alten, aus einem Mammutstoßzahn geschnitzten Figur über das Verhältnis von
Kunst und Klimawandel.
Als eine Spielart von Cléments „dritter Landschaft“ können demilitarisier…
Zonen gelten, wie jene zwischen Nord- und Südkorea. Santiago Sierra ließ
dort zwei große Löcher ausheben und die herausgebaggerten Erdblöcke in das
jeweils andere Loch versetzen. So fand er eine Metapher für willkürlich
konstruierte Grenzziehungen. Jetzt läuft die filmische Dokumentation auf
einem Bildschirm in einem der hölzernen Floßgebäude. Ein paar Meter weiter
in einem Kino aus Schilfwänden „unterwandert“ Mischa Leinkauf buchstäblich
politische Grenzen: als Taucher auf dem Meeresgrund unter Israel,
Jordanien, Ägypten, der spanischen Enklave Ceuta und Marokko.
Eingebettet in die ausdrucksstarke Struktur der Floating University kann
sich die Kunst, in der Diskurse zu Objekten und Filmbildern erstarren, nur
schwer behaupten. Die Menschen, die jetzt auf den Flößen im Becken
schippern, oder die Gruppe Kinder, die in einem der offenen Räume bastelt,
machen Lust auf das, was die Pandemie uns gerade gleichermaßen nimmt und
dringlicher macht: zusammen sein und gemeinsam Gegenentwürfe zum
Kapitalozän denken.
Das Symposium zu „Terrestrial Assemblage“, das heute stattfindet, muss
noch als Livestream auskommen. Doch die für den Sommer geplante zweite
Ausgabe des Festivals „Climate Care“, bei dem Vorträge und Workshops dazu
einladen, sich mit Care-Ethik, Umweltwissenschaften und Klimakrise zu
beschäftigen, könnte unter Umständen wieder als Zusammenkunft stattfinden –
als soziale Plastik, ließe sich mit [2][Joseph Beuys] sagen. Analog zu
Beuys’ Diktum, „jeder Mensch ist ein Künstler“, entwarf Clément die Vis…
„jeder Mensch ist ein Gärtner“. Seinen Lebensraum soll dieser erschaffen,
mahnt er, und nicht zerstören.
Bis 6. Juni, Floating University, Anmeldung über terrestrialassemblage.com
erforderlich; Symposium: heute, 10–18 Uhr, [3][per Livestream] und im
Auditorium der Floating University
18 May 2021
## LINKS
[1] /!5525455&SuchRahmen=Print
[2] /!5765964&SuchRahmen=Print
[3] http://terrestrialassemblage.com
## AUTOREN
Sabine Weier
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