# taz.de -- Das andere Russlandbild | |
> Die spendenfinanzierte Medienplattform „Dekoder“ recherchiert spannende | |
> Geschichten | |
Von Alina Schwermer | |
Plötzlich ist man vielleicht in einer Kirschhölle. In Anlehnung an das Werk | |
„Der Kirschgarten“ von Tschechow, das den Niedergang des russischen Adels | |
erzählt, schreibt der freie Journalist Andrej Urodow eine Reportage über | |
ein russisches Dorf namens Koltyschewo. Wo im abgewirtschafteten | |
Gutsherrenhaus heute Invaliden, Packerinnen, eine einstige | |
Gefängnisaufseherin und ein traumatisierter Donbasskämpfer leben, ohne | |
trinkbares Wasser oder Kanalisation. Und ihre Geschichten erzählen. Es ist | |
eine traurige, aber auch bewegende Reportage. | |
Ein paar Buchseiten weiter ist man im hohen Norden Russlands, in Karelien, | |
wo der heroische Eigenbrötler Juri Dimitrijew in jahrelanger Arbeit die | |
Verbrechen des Großen Terrors unter Stalin dokumentiert und Tausende von | |
Leichen in geheimen Massengräbern aufspürt. Er spricht über Dinge, über die | |
man schweigt – und irgendwann zu hartnäckig. Der russische Journalist und | |
Blogger Schura Burtin schildert, wie der Staat den Einzelkämpfer Dimitrijew | |
fertigmachte und eine eigene Lügengeschichte über die Massengräber | |
drüberbügelte. | |
Dass es all diese und viel mehr Geschichten in die deutsche Sprache | |
geschafft haben, ist der unermüdlichen Arbeit der spendenfinanzierten | |
Medienplattform Dekoder zu verdanken. 2015 wurde sie gegründet, um Texte | |
aus unabhängigen russischen Medien zu übersetzen, ergänzt durch | |
wissenschaftliche Texte. Schon die Tatsache, dass es in Russland immer noch | |
kritische JournalistInnen gibt, die herausragende Reportagen schreiben, | |
dürfte die meisten deutschen LeserInnen überraschen. | |
„Die Kategorien, in denen wir Europäer die gesellschaftlichen Zustände | |
eines Landes verstehen, greifen in Bezug auf Russland oft dramatisch ins | |
Leere“, schreibt das Dekoder-Team auf der Website [1][dekoder.org]. | |
„Dementsprechend anfällig sind wir für Ideologien, Mythen und polemische | |
Grabenkämpfe.“ | |
Genau das ist dieses wunderbare Portal nicht. Es verbindet Kritik und | |
Empathie, in Bezug auf Russland eine seltene Qualität. So kommt es auch, | |
dass sich, im Gegensatz zu vielen deutschen Medien, hier nicht ewig platte | |
Putin-Stücke finden, sondern sich die ganze kulturelle, politische, | |
gesellschaftliche Breite russischen Lebens spiegelt. Von Wandteppichen bis | |
zur solidarischen Garagenwirtschaft. | |
Im Jahr 2016 gab es dafür den Grimme Online Award. Mittlerweile hat Dekoder | |
den Fokus geweitet, etwa auf Belarus. Und das 2019 erschienene Buch | |
„Dekoder: Russland entschlüsseln“, das alle genannten Texte versammelt, ist | |
gewissermaßen ein Best-of. Aus kritischer, in der Regel russischer Feder, | |
nicht paternalistisch und oberflächlich. Online gibt es neben aktuellen | |
Texten auch Formate wie eine Grafik der Worte, die Putin in den letzten | |
zwanzig Jahren in seinen Reden verwendet hat. Und wo man lernen kann, dass | |
er in der eigenen Amtszeit ständig über Terrorismus redet und in der von | |
Medwedew dagegen über Modernisierung. Kleine und große Puzzleteile. Seit | |
November 2019 gibt es die wichtige Transferleistung auch umgekehrt: auf | |
Russisch, mit dem Titel „Europa entschlüsseln“. | |
27 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] http://dekoder.org | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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