# taz.de -- Neue Aufgabe für alte Gasnetze | |
> Wo heute noch Erdgas strömt, soll es in Zukunft der Wasserstoff sein. Ein | |
> universeller Energiespeicher beflügelt die Fantasie der Energiewirtschaft | |
> – nicht zum ersten Mal | |
Bild: Modell eines Wasserstoffmoleküls. Wasserstoff ist das häufigste chemisc… | |
Von Bernward Janzing | |
Zwei Anteile Wasserstoff, ein Anteil Sauerstoff, schon hat man eine | |
energiegeladene Mischung. Im Chemieunterricht hat man diese eindrucksvoll | |
unter dem Namen Knallgas erlebt. Will man Energie gewinnen, reicht | |
allerdings der Wasserstoff – nur kann man ihn im Gegensatz zu Kohle oder | |
Erdgas nicht einfach aus der Erde holen, da es ihn in der Natur in | |
isolierter Form praktisch nicht gibt. | |
Wer Wasserstoff nutzen will, muss ihn deshalb erst erzeugen. Und das – man | |
ahnt es – braucht viel Energie. Wasserstoff ist folglich keine | |
Energiequelle im Sinne einer Primärenergie. Das Gas ist nur ein | |
Energiespeicher. Wasserstoff ist funktionell eher mit Batterien und | |
Pumpspeichern vergleichbar als mit Erdgas und Kohle. Nicht immer wird das | |
in der öffentlichen Debatte ausreichend differenziert. Deshalb noch mal zum | |
Mitschreiben: Wasserstoff ist ein Speicher – nicht mehr, aber auch nicht | |
weniger. | |
Neue Speicher werden wir brauchen, wenn wir immer mehr schwankende | |
Stromerzeuger wie Wind und Sonne nutzen und zugleich immer weniger auf die | |
in Kohle und Erdgas fossil gespeicherte Energie zurückgreifen wollen. So | |
liegt es nahe, Strom in Zeiten des Überflusses zu verwenden, um Wasserstoff | |
zu erzeugen: Das gelingt durch Auftrennung von Wassermolekülen (chemisch | |
H2O) in ihre Grundbausteine. Und das sind dann wieder die bereits bekannten | |
zwei Anteile Wasserstoff (H2) und der eine Anteil Sauerstoff (O). Das | |
Knallgas eben. Das dafür eingesetzte Gerät ist der Elektrolyseur. Man kann | |
zwar auch Wasserstoff aus Erdgas erzeugen, aber dafür braucht man eben | |
weiterhin fossile Energie und es entsteht zudem CO2 – ist also nicht das, | |
was eine wirklich „grüne“ Wasserstoffwirtschaft auszeichnet. | |
Der Gedanke, mit Wasserstoff die Energiewelt zu revolutionieren und | |
gleichermaßen zu ökologisieren, ist nicht neu. Bereits im Jahr 1986, als | |
literarische Standardwerke noch nüchterne Titel haben durften, erschien das | |
Buch „Wasserstoff als Energieträger“. Der Spiegel adelte dieses bald zur | |
„Bibel des neuen Zeitalters“. Autoren waren die beiden Wissenschaftler | |
Carl-Jochen Winter und Joachim Nitsch, die „klügsten Anwälte, die Sonne und | |
Wasserstoff im Lande haben“, wie seinerzeit das Magazin schrieb. | |
Diese Einschätzung war durchaus angemessen. Denn die beiden Wissenschaftler | |
am DLR, dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (das damals noch | |
DFVLR hieß), tüftelten seit den 1970er Jahren an der Energierevolution. In | |
den Sonnengürteln der Erde wollten sie Wasserstoff erzeugen und diesen per | |
Tankschiff – wie man es heute mit verflüssigtem Erdgas macht – in die | |
Industrieländer bringen. | |
Bald nahm sich auch Ludwig Bölkow des Themas an, der Gründer des | |
gleichnamigen Flugzeugherstellers, welcher später im MBB-Konzern | |
(Messerschmitt-Bölkow-Blohm) aufging. So wurde Bölkow in den 1980er Jahren | |
zum industriellen Vordenker des solaren Wasserstoffs. Zugleich aber kam | |
bereits die grundsätzliche Frage auf, wie sinnvoll es eigentlich ist, die | |
Abhängigkeit Europas von arabischen Ölländern zu lösen und synchron eine | |
neue Abhängigkeit zu schaffen – diesmal von afrikanischen Sonnenstaaten mit | |
extrem hohem Korruptionsindex. Diese Frage begleitet die Debatte bis heute. | |
Greifbar werden sollte die Vision von der neuen Energiewelt einstweilen im | |
Inland, in Neunburg vorm Wald in der Oberpfalz. Die | |
Solar-Wasserstoff-Bayern GmbH, hinter der das Bayernwerk (heute zu Eon | |
gehörend) sowie die Unternehmen BMW, Linde, MBB und Siemens standen, | |
errichtete im Jahr 1987 eine Photovoltaikanlage mit einer für damalige | |
Zeiten gigantischen Leistung von 370 Kilowatt. Zwei Elektrolyseure nutzten | |
den Strom, um Wasserstoff zu erzeugen. Das universelle Speichermedium | |
schien geboren. Per Brennstoffzelle konnte man den Wasserstoff wieder | |
verstromen, aber auch eine Wasserstofftankstelle gab es vor Ort. Dort | |
konnte ein BMW 735i mit Wasserstoff-Verbrennungsmotor in vier Minuten mit | |
flüssigem Wasserstoff von minus 250 Grad Celsius voll betankt werden. | |
Doch die Zeit war noch nicht reif für dieses Konzept. Bald musste die | |
Projektgesellschaft bilanzieren, dass „solar erzeugter Wasserstoff im | |
Vergleich mit herkömmlichen Energiesystemen noch sehr teuer und damit weit | |
davon entfernt ist, wirtschaftlich zu sein“. So erfüllten sich die | |
Hoffnungen, die man in der frühen Phase nach der Tschernobyl-Katastrophe | |
vom April 1986 in den Wasserstoff gesetzt hatte, einstweilen nicht. | |
Heute nehmen Politik und Unternehmen in Deutschland einen neuen Anlauf. Nun | |
getrieben durch rasant gestiegene Anteile von Photovoltaik und Windstrom im | |
Netz, politisch forciert im Zuge von Atom- und Kohleausstieg. Denn Gase | |
haben einen enormen Vorteil gegenüber anderen Speichern: Sie können auf | |
eine bestehende Infrastruktur zurückgreifen – auf eine leistungsstarke | |
zudem. | |
Schließlich verfügt Deutschland über ein Gasnetz von beachtlichem Ausmaß | |
mitsamt riesigen Speicherkapazitäten. Während alle Stromspeicher in | |
Deutschland zusammen gerade ausreichen, um den Strombedarf im Land für eine | |
Dreiviertelstunde zu decken, fassen die bestehenden Gasspeicher das Gas für | |
drei Monate. | |
Diese Strukturen für die Energiewende zu erschließen ist also ein durchaus | |
charmanter Gedanke. Gelingen kann das mit zwei verschiedenen Gasen, die | |
jeweils Vor- und Nachteile haben: Wasserstoff und Methan. Der Wasserstoff | |
hat den Nachteil, dass man ihn – bisher – nur bis zu einem begrenzten | |
Prozentsatz in die Netze einspeisen kann. Methan kennt eine solche Grenze | |
hingegen nicht, denn genau wie Erdgas kann man es synthetisch mit Ökostrom | |
erzeugen, indem man den Wasserstoff mit Kohlenstoff (welcher aus CO2 | |
gewonnen wird) verbindet. Der Nachteil gegenüber Wasserstoff: Der weitere | |
Prozessschritt erzeugt weitere Energieverluste. | |
Also liegt nun in Politik und Energiewirtschaft der Wasserstoff vorne. Die | |
Gaswirtschaft arbeitet daran, ihre Netze für mehr Wasserstoff fit zu | |
machen. Bislang sind je nach Netzabschnitt mal bis zu 2 Prozent, mal sogar | |
bis beinahe 10 Prozent Beimischung möglich. Im vergangenen Jahr kündigte | |
der DVGW, der technische Fachverband der Branche, ein neues Regelwerk an, | |
das „eine Zielgröße von etwa 20 Volumenprozent Wasserstoffeinspeisung“ | |
anpeilt. Dafür sind einige Komponenten der Infrastruktur umzurüsten, denn | |
manche Werkstoffe, aus denen die Leitungen, Verdichterstationen und | |
Gasspeicher bestehen, werden durch zu hohe Wasserstoffkonzentrationen | |
angegriffen. | |
Selbst die Umrüstung des Netzes für 100 Prozent Wasserstoff ist machbar. | |
Die deutschen Fernleitungsbetreiber stellten Anfang 2020 ihr „visionäres | |
H2-Netz“ vor: Leitungen mit einer Gesamtlänge von etwa 5.900 Kilometern | |
sollen für den Transport reinen Wasserstoffs hergerichtet werden. 90 | |
Prozent davon seien bestehendes Netz, das entsprechend ertüchtigt werde, | |
erklärt die Vereinigung der Fernleitungsnetzbetreiber Gas (FNB Gas), nur | |
ein kleiner Rest müsse neu gebaut werden. Die FNB Gas setzt darauf, dass es | |
Wasserstoff aus überschüssigem Ökostrom in steigendem Maße geben wird: | |
Erzeugungskapazitäten mit einer Leistung von 1,5 Gigawatt seien im Jahr | |
2025 realistisch. Im Jahr 2030 könnten es bereits 7,5 Gigawatt sein – und | |
die deutschen Anlagenhersteller dann womöglich Weltmarktführer. | |
Der gespeicherte Wasserstoff kann vielfältig genutzt werden, zum Beispiel | |
in Fahrzeugen mit Brennstoffzelle. Diese sind genau genommen auch | |
Elektroautos, da sie einen Elektromotor haben, aber sie erzeugen den Strom | |
erst beim Fahren. Die Vorteile der Wasserstoffautos: Das Tanken geht | |
schnell, die Tankfüllung hält lange, und es gibt keine schweren Batterien. | |
Längst wird der Wasserstoff nicht mehr durch Kälte verflüssigt, man nutzt | |
heute Drucktanks bis 700 bar. Der Nachteil: Die Fahrzeuge sind bisher noch | |
erheblich teurer als die Batterieflitzer. | |
Für Lkws unterdessen, bei denen der Einsatz von Batterien für den Antrieb | |
kaum praktikabel ist, könnte der Wasserstoff die Option der Wahl sein. Die | |
Zulieferindustrie setzt darauf: Die Firma Bosch gab im Frühjahr 2019 | |
bekannt, sie werde künftig das Herzstück der Brennstoffzelle, die Stacks, | |
entwickeln. Auch für die Bahn ist die Brennstoffzelle auf nicht | |
elektrifizierten Strecken eine Option: Der französische Bahnkonzern Alstom | |
hat seit 2018 seinen Wasserstoffzug „Coradia iLint“ auf einer Strecke in | |
Norddeutschland im Fahrplanbetrieb. Weitere Linien werden folgen, etwa im | |
Raum Frankfurt-Taunus, wo der Rhein-Main-Verkehrsverbund mit 27 | |
Regionalzügen die größte Wasserstoffflotte der Welt einzusetzen plant. | |
Aber auch für Pkws soll der Wasserstoff an Bedeutung gewinnen – das hoffen | |
zumindest einige Unternehmen. Die Firmen Air Liquide, Daimler, Linde, OMV, | |
Shell und Total haben im Jahr 2015 die Betreibergesellschaft H2 Mobility | |
Deutschland gegründet. Seither bauen sie Wasserstofftankstellen auf; 86 | |
gibt es inzwischen in Deutschland. | |
Doch wird der Wasserstoff sich durchsetzen – im Verkehr, in der | |
Stromwirtschaft, im Gebäudesektor? In der öffentlichen Debatte thront über | |
dieser Frage stets jene des Wirkungsgrades, die Frage der Effizienz. Die | |
Energieausbeute bei der Wasserstofferzeugung erreicht heute 80 Prozent. Das | |
ist nicht schlecht. Wird der Wasserstoff dann wieder verstromt, geht | |
allerdings nochmals die Hälfte der Energie verloren. So erreicht die | |
Prozesskette Strom – Wasserstoff – Rückverstromung einen Gesamtwirkungsgrad | |
von nur etwa 40 Prozent. Im Vergleich dazu ist die Batterie ein deutlich | |
besserer Speicher. | |
Aber ist das nun das entscheidende Kriterium? Vollblut-Ingenieure hören es | |
vermutlich nicht gern, gesagt werden muss es dennoch: Über die Frage, | |
welcher Energiespeicher sich am Ende in welchen Sektoren durchsetzt, wird | |
nicht stur der technische Wirkungsgrad entscheiden. Durchsetzen wird sich | |
vielmehr jene Technik, die am wirtschaftlichsten ist. Dafür sind geringe | |
Umwandlungsverluste zwar ein wichtiger Faktor – aber eben nicht der | |
einzige. | |
Ökonomisch wird nämlich auch zählen, welche Infrastruktur aus dem alten | |
Energiesystem weiterhin nutzbar ist. Eine starke Triebfeder der | |
Wasserstoffwirtschaft ist damit gegeben: das bestehende Erdgasnetz. | |
31 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Bernward Janzing | |
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