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# taz.de -- Warum liest keiner Aischylos?
> Die Volksbühne und das Berliner Ensemble haben jeweils eine junge
> Regisseurin auf die antike Rächerin angesetzt – herausgekommen sind zwei
> Horrortrips, ein wortreich feministischer und ein stummer
Bild: Ihre Pantomime kann nur deuten, wer sich auskennt. Alexandra Corovic, Til…
Von Barbara Behrendt
Zwei „Elektra“-Premieren in sieben Tagen an zwei großen Berliner Häusern,
inszeniert von zwei jungen Regisseurinnen – ist das eine Themenwoche oder
einfach schlecht geplant? Dritte Möglichkeit: Eine neue
Frauenregie-Generation arbeitet sich an der antiken Rächerin ab – wie das
bereits viele Autoren taten, allerdings alles Männer: Aischylos, Sophokles,
Hofmannsthal, Sartre, Hauptmann, O’Neill.
Bei den alten Griechen ist Elektra eine archaische Figur, mehr Prinzip als
psychologisch verstehbar. Furiose Rächerin, die ihre Mutter töten lässt,
weil die ihren Ehemann, Elektras Vater, umgebracht hat. 20 Jahre lang
wartet Elektra auf die Rückkehr ihres Bruders, bis der endlich den
Vater-Mord rächt. Hofmannsthal und O’Neill legen 2.400 Jahre später Freuds
Koordinaten der Psychoanalyse an und mären sich über inzestuöse
Verstrickungen und ödipale Komplexe aus. Elektra auf der Couch – bei
O’Neill tragen die Figuren ihre Motive wie in der Gesprächstherapie auf der
Zunge.
„Mourning becomes Electra“ – „Trauer muss Elektra tragen“ – heißt …
Bearbeitung: Elektra wird zur in Trauer und Trauma versteinerten Tochter.
Verlegt hat O’Neill das Drama nach New England um das Jahr 1865. General
Eszra Mannon kehrt aus dem Bürgerkrieg zurück und findet eine eiskalte
Ehefrau vor, die ausgerechnet ein Verhältnis mit Kapitän Brant hat – dem
verstoßenen Cousin der Familie, in den Tochter Lavinia verliebt ist.
„Mourning becomes Electra“ heißt auch Pinar Karabuluts
Volksbühnen-Inszenierung. Auf einer großen Leinwand wird der Titel
eingespielt, dazu gleitet ein Volvo auf der Landstraße durch goldene
Felder. Eine „Landarzt“-Folge? Kurz darauf eher „Verbotene Liebe“, wenn
sich Mutter Christine, die verführerische Geschäftsfrau, und Lavinia, ein
rotschopfiger Teenager mit Schulmädchen-Charme, um Kapitän Brant streiten.
Dann beginnt der Gruselschocker: Christine steht neben ihrem aufgebahrten
Sohn. Der schlägt plötzlich die Augen auf und zieht sie zu sich, bis das
Totenbett sie ganz verschluckt. Lavinia spießt Voodoo-Puppen auf, isst die
Innereien ihres Bruders – Bilder wie aus einem Splattermovie der B-Klasse.
Ironische Einblicke ins Unterbewusstsein, die 50 Minuten lang perfekt
produziert über die Leinwand ziehen, bevor die erste Schauspielerin die
Bühne betritt.
Ein blaues Haus liegt dort auf seinem Dach. Davor liefern sich Paula Kober
als Lavinia und Sabine Waibel als Christine ihre Zicken-Fights. Lavinia
ist der Inbegriff des Triebhaften, Dämonischen, aber auch der weiblichen
Selbstermächtigung. Das geht so weit, dass sie ihren Bruder abschlachtet,
als der nach seiner Mama schreit. Ein milderer Angang hätte bei der
radikalfeministischen Regisseurin auch verwundert. Lavinias letzte Worte
vor dem Applaus: „I’m a free bitch, baby!“
Karabulut inszeniert mit Spaß an der detailgenauen Ausstattung: die Blusen,
Blazer, Tüllkleider in pink und giftgrün, die an die bunten 1970er
erinnern. Die Porzellankätzchen und Schaummäuse, denen Christine genüsslich
den Kopf abbeißt – böse komisch und höchst unterhaltsam.
Doch das Assoziationskarussell dreht im Lauf von fast drei Stunden
schließlich hohl – spätestens, wenn Malick Bauer aus seiner Rolle des
Kapitäns tritt und einen Monolog über die Stigmatisierung schwarzer
Schauspieler anstimmt, wird’s zum Ideen-Potpourri.
Was Karabulut an Gedanken-Explosion zu viel hat, hat Rieke Süßkows
„Elektra“-Abend am Berliner Ensemble zu wenig. Auch ihrer Inszenierung
liegt, so liest man, O’Neill zu Grunde, zudem Sophokles und Hofmannsthal.
Fraglich aber, ob die Probanden eines Blindversuchs überhaupt erraten
würden, welches Drama gespielt wird.
Formstark ist der Abend allemal. Marlene Lockemann hat die Bühne als
gigantisches Pop-up-Bilderbuch gestaltet. Wenn sich die Pappwände wie
Buchseiten auseinanderschieben, klappt ein neuer Raum auf: ein Wohnzimmer
mit dreidimensionalen Pappstühlen, ein Badezimmer mit in den Raum ragender
Wanne, am Ende züngelt ein Schlangenkopf aus den Seiten hervor. Süßkow
bleibt der Bilderbuch-Idee auch inhaltlich treu: Text gibt es keinen. Dafür
gruselige Stummfilmmusik, die jede Geste einer Figur mit einem Geigen-Zupf
oder -Streich begleitet. Die sechs Spielerinnen und Spieler mit
quietschgelbem Haar, weiß geschminkten Gesichtern und überdimensionierten
Schulterpolstern wackeln wie Horror-Pappkameraden mit eckigen Schritten und
Zombie-Gesten stumm, aber mit aufgerissenem Schreimund umher – und wirken
schrecklich harmlos.
Die Pantomime kann nur deuten, wer sich auskennt. Klar wird höchstens, dass
es viel Streit zu Hause mit den Kindern gibt. Als Papa mal kurz weggeht
(von Krieg keine Spur), kommt ein anderer Mann, der sich seltsamerweise
verhält wie ein Einbrecher. Mama hackt auf den zurückgekehrten Papa in der
Badewanne ein. Was dann mit der Mama und der Schlange passiert und warum
der Bruder weg ist – schwer zu sagen. Am Ende steht die Tochter, wie zu
Beginn, allein zwischen den Seiten und besieht erschrocken ihre Hände.
Selbst, wer alles versteht: Es zeigt sich, dass Sprache im Theater keine so
schlechte Idee ist, denn der Erkenntnisgewinn dieses Gebärdenspiels bleibt
gering. Wir hängen im Mythos fest, Traumata werden wiederholt bis in alle
Ewigkeit, soll uns das Bilderbuch-Gruselmärchen sagen.
Erstaunlich, dass keine der Regisseurinnen bei Aischylos, dem ältesten
Elektra-Dichter, nachgeschlagen hat. Der hatte vor fast 2.500 Jahren eine
kluge Idee: Statt der ewigen Rache erfand er für das Ende seiner „Orestie“
ein Bürgergericht, das über die Schuld der Mörder bestimmen soll: Der
Beginn der Demokratie. Aber die scheint als Lösungsmodell derzeit nicht
hoch im Kurs zu stehen.
24 Oct 2020
## AUTOREN
Barbara Behrendt
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