# taz.de -- Erleuchtete Schattenseiten | |
> Zum fünften Mal lädt in Braunschweig der „Lichtparcours“ zum nächtlich… | |
> Kunstwandeln unter freiem Himmel ein. Zu sehen sind zum 20. Jubiläum der | |
> Serie spektakuläre Lichtinstallationen und Kunstwerke, die Licht auf | |
> gesellschaftliche Missständewerfen | |
Bild: Lyrisch abstrakter Lichtblick über der Oker: Anselm Reyles „She will o… | |
Von Bettina Maria Brosowsky | |
Steht man derzeit in Braunschweig auf der Oker-Brücke am Wendentor und | |
schaut in östliche Richtung hinunter aufs Wasser, fällt der Blick auf ein | |
Boot. Immerhin fast acht Meter lang, liegt hier es wie gekentert, kieloben. | |
Es ist die Installation einer Nachwuchs-Baukünstlerin, der Masterstudentin | |
Victoria Hermesmann. Ihr Entwurf entstand im Rahmen eines seminaristischen | |
Wettbewerbs für ein „Low Tech Kraftwerk“ im vergangenen Wintersemester am | |
Institut für Architekturbezogene Kunst unter Professorin Folke Köbberling. | |
Nun ist er ein Beitrag zum diesjährigen Lichtparcours der Stadt | |
Braunschweig. | |
Bereits der fünfte seiner Art, konzentriert er sich diesmal wie der | |
allererste, parallel zur Expo 2000 veranstaltete, auf die Okerumflut, also | |
jene zwei barocken Wasserläufe um die Braunschweiger Innenstadt, mitsamt 24 | |
Brücken und öffentlichen wie privaten Grünräumen. | |
Hermesmanns Boot will, ganz unübersehbar, eine politische Botschaft | |
verdeutlichen, es soll auf die vielen Menschen aufmerksam machen, die im | |
Mittelmeer ertrinken. „Doch die Zahlen schockieren nicht mehr“, so | |
Hermesmann, zudem gäbe es ja Hilfe, wenn sie denn nur durchgesetzt würde. | |
Hermesmanns symbolische Rettungsaktion sieht folgendermaßen aus: Ein Seil | |
verbindet das Boot mit einer Plattform an Land. Ziehen Besucher:innen des | |
Lichtparcours nun daran, wollen sie also das Boot ans sichere Ufer holen, | |
erleuchtet um es herum eine Art Aureole. Lässt ihre Anstrengung nach, | |
erlischt auch wieder das Licht. | |
Dieses einfache Sinnbild lässt natürlich viele weitere Interpretationen zu, | |
gerade im Kontext einer Universität. Sind in unserem auf markttaugliche | |
Effizienz getrimmten Bildungssystem nicht schon längst alle hehren | |
akademischen Werte baden gegangen? Und wohin schippert denn dieses | |
Sommersemester, in seinem Corona-Online-Modus? | |
Diese nicht gerade aufmunternden Assoziationen befeuert eine zweite, | |
ungleich spektakulärere Arbeit des Hannoveraner Duos Lotte Lindner und Till | |
Steinbrenner, etwas weiter flussaufwärts. Es ist ein weiteres Hochhaus der | |
TU, dessen geschlossene Giebelscheibe nun der gigantischen Projektion einer | |
tapferen Wassersportlerin dient. Sie rudert entschlossen gegen die raue | |
Strömung, wird aber ihr Ziel nie erreichen. Allerdings will „Ekstase II“, | |
so der Titel, vom Glücksmoment im steten Tun erzählen – darum wissen | |
Künstler:innen, aber auch Studierende ja nur zu gut. Dürfen wir sie uns, | |
ähnlich Sisyphos seit Albert Camus’Exegese, allesamt als glückliche | |
Menschen vorstellen? | |
Der Lichtparcours ist ein Klassiker im Sommerkunstprogramm der Stadt | |
Braunschweig, er fällt zu seinem 20-jährigen Jubiläum mit 15 neuen | |
temporären sowie drei alten stationären Installationen von regionalen bis | |
internationalen Künstler:innen äußerst üppig aus. Teilnehmende wurden, wie | |
schon bei den Vorgängerprojekten, mit weit über einem Jahr Vorlauf durch | |
ein Auswahlgremium eingeladen, Vorschläge auszuarbeiten. Es fanden sich | |
wieder Sponsoren, um immerhin 15 der 21 Ideen zu realisieren. Alles lief | |
nach Plan, dann kam Corona und ließ vieles wieder fraglich werden. | |
Hier habe das „Prinzip Hoffnung“ geholfen, so Kulturdezernentin Anja Hesse. | |
Alle Energie, auch freie finanzielle Mittel, konzentrierte sie auf den | |
Parcours und ein Sicherheitskonzept. Dazu zählt auch ein Wachdienst, der | |
bis Anfang Oktober auf abendlicher Streife Abstandsgebote unter den | |
Besucher:innen kontrollieren wird. | |
Vielleicht ist es diese gedämpfte Grundstimmung, die bei vielen der | |
lichtkünstlerischen Interventionen eher dystopische Assoziationen nahelegt. | |
Da wären etwa die vom Team Fort und Anna Jandt tief in der Oker versenkten | |
drei Straßenlaternen, die vor den Folgen des bedrohlich gestiegenen | |
Meeresspiegels warnen. Oder der verunglückte, in der Oker gelandete VW Golf | |
II von Bjørn Melhus. Eigentlich will Melhus die Kehrseite hedonistischer | |
Lebensweisen der „Generation Golf“, also der ab den 1970er-Jahren in der | |
alten Bundesrepublik Sozialisierten, kommentieren. Aber geht nicht auch der | |
VW-Konzern gerade unter, wie viele Besucher:innen spontan anmerken? | |
Ein illuminierter Springbrunnen von Benjamin Bergmann plätschert aus einem | |
Schuttcontainer. Sven-Julien Kanclerski lässt gleich an drei Orten Objekte | |
aus Abfall treiben. Sprachkünstler Tim Etchells beruhigt per LED-Schriftzug | |
an einer kargen Mauerkulisse, dass ein bedrohliches Geräusch ja nur der | |
Wind sei. Allerdings irrlichtern dabei einzelne Buchstaben. Mit | |
fragmentierten, in unterschiedlichen Richtungen und Geschwindigkeiten | |
laufenden Werbetexten schickt Martin Groß flüchtige Botschaften unter den | |
Halt versprechenden Boden eines Fußgängerstegs. | |
In der Mitte des Parcours hat das österreichisch-deutsche Künstlerkollektiv | |
Bar du Bois einen gleichnamigen kleinen Ausschank im Gartenpavillon der | |
Städtischen Musikschule aufgeschlagen. Das Motiv tröstlicher | |
Trinkgemeinschaft ist der Kunstgeschichte ja nicht fremd, es reicht vom | |
Absinth-Konsum der Boheme im Fin de Siècle bis zum einsamen Picheln der | |
Moderne, wie es Edward Hopper sah. Ginge es nach den Künstlern, dürfte hier | |
dem abendlichen Rausch gehuldigt werden, der bekanntlich Sinne und Seele | |
belebt. | |
Wer das Phänomen Licht theoretisch vertiefen will, kann im November zu | |
einem zweitägigen Symposion des Kunstmuseums Wolfsburg mit der | |
Kunsthochschule Braunschweig aufbrechen. Die metaphysische, auch politisch | |
eingesetzte Wirkmacht der künstlichen Beleuchtung hätte dort eigentlich | |
schon ab Mai Thema der großen Ausstellung „Macht! Licht!“ sein sollen. Sie | |
ist ins nächste Jahr verschoben und wird nun das intellektuelle Nachspiel | |
des Braunschweiger Lichtparcours, der hoffentlich noch zum leichtfüßigen | |
Sommer-Event aufläuft. | |
„Lichtparcours“: bis 9. 10., Braunschweig, Okerumflut; Infos und | |
Begleitprogramm: www.braunschweig.de/lichtparcours2020 | |
20 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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