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# taz.de -- Die Kirche war der „vierte Mann“
> Jazz aus Berlin hat auch eine lange Ostgeschichte: An die knüpft ein neu
> erschienenes Album von Konrad „Conny“ Bauer an, live aufgenommen in einer
> „Schallplattenkirche“ in Oberschöneweide
Bild: Von links nach rechts: Dag Magnus Narvesen (Schlagzeug), Konrad „Conny�…
Von Robert Mießner
„Kammermusik, das trifft es schon“, antwortet Konrad „Conny“ Bauer, als…
der Begriff für das Mitte Mai auf dem preisgekrönten litauischen Label
NoBusiness Records erschienene Album „The Gift“ vorgeschlagen wird, eine
Trioaufnahme des Berliner Posaunisten mit seinem Bruder Matthias Bauer am
Kontrabass und dem norwegischen Perkussionisten Dag Magnus Narvesen. Dabei
ist das Wort eine journalistische Krücke mit einem Quentchen Ironie: Der
Begriff Kammermusik ist historisch in Abgrenzung von der Kirchenmusik
geprägt worden, „The Gift“ wiederum ist als Liveaufnahme in der
Christuskirche in Oberschöneweide entstanden. Am 4. Juli 2018 um genau zu
sein, zu Conny Bauers Geburtstag. Den begeht der Musiker seit Jahren mit
einem Konzert, vor zwei Jahren war es der 75.
Seinem Anlass gemäß beginnt „The Gift“ mit einem Schlagzeugtusch. In sein…
hellen Sound mischt sich schnell ein tief schwirrender Basston, dann der
langgezogene Ruf der Posaune. Der verwandelt sich in ein industriell
anmutendes, aber wohliges Brummen, bis, wir sind gerade mal in der zweiten
Minute, der Bass ein erstes Mal unbegleitet geht. Auf „The Gift“ ist Platz
für Solospiel, für Duette und das ganze Trio. In der Dreiviertelstunde
Spielzeit des in drei Stücke unterteilten Albums, zwei auf der A-, eines
auf der B-Seite, gibt es lockere Passagen und solche enormer Verdichtung,
es gibt Momente, da stimmt die Posaune einen Choral an oder erinnert gleich
an eine wuchtige Orgel. „Instrumentfremde Klänge“ sagt Conny Bauer dazu.
Die Gretchenfrage, ob das noch Free Jazz ist, darf dabei so offen bleiben,
wie es diese Musik ist. Die Offenheit hat ihre eigene Ordnung. Conny Bauer,
der lieber von improvisierter Musik als von Free Jazz spricht, sagt: „Was
die Leute am Free Jazz ängstigt, ist das Durcheinander, das sie erwarten.“
Die verblüffenden Experimente von „The Gift“ machen einen geradezu
wohlgefügten Eindruck, dabei entsteht diese Musik, wie ihr Perkussionist
wiederum betont, wirklich spontan. Nach etwaigen Vorbereitungen befragt,
antwortet Dag Magnus Narvesen: „Wir fangen bei der Stille an.“ Matthias
Bauer bringt noch eine Komponente ins Spiel: „Das Tolle an der
Improvisation ist, dass der Raum mitspielt. Die Kirche war sozusagen unser
vierter Mann.“
Dass das Trio in der Christuskirche aufspielen durfte, ist dann doch nicht
vom Zufall gewürfelt worden. Seit Beginn der 60er Jahre hat das Gotteshaus
aufgrund seiner Akustik auch als Tonstudio gedient und wurde vom Volksmund
zur „Schallplattenkirche“ umgewidmet. Der VEB Deutsche Schallplatten
Berlin, staatlicher Monopolist der DDR, spielte dort zahlreiche Platten
seines Klassiklabels Eterna ein. Es entstanden Choraufnahmen wie auch
Interpretationen zeitgenössischer und experimenteller Klaviermusik.
Die beiden Bauer-Brüder und Narvesen wussten davon, Conny Bauer erinnert
sich, sogar vor 2018 dort schon einmal gespielt zu haben. Das „The
Gift“-Konzert ging auf eine Initiative des Schöneweider Kulturmanagers Lutz
Längert und [1][die Organisation des Jazzkellers 69 e. V.] (bekannt
geworden als Jazzkeller Treptow) zurück, einer Institution, der alle drei
Musiker seit Längerem verbunden sind.
In den 70er Jahren ist Conny Bauer dort mit Bands wie FEZ und Synopsis
aufgetreten, legendäre Namen des freien Spiels in der DDR. Matthias Bauer
spielte Bass im Konrad Bauer Quartett, ihr Bruder, der 2016 verstorbene
Posaunist Johannes Bauer, mit dem Andreas Altenfelder Quintett. 2019 stand
Matthias als Mitglied eines Memorial-Orchesters für Johannes Bauer auf der
Bühne und hat die Proben geleitet. Das Konzert fand im Industriesalon
Schöneweide statt, einem von mehreren Orten, in die der Jazzkeller 69 e. V.
mittlerweile einlädt. Dag Magnus Narvesen hat dort Ende Januar dieses
Jahres mit dem Didrik Invaldsen Ensemble eines der bis dato letzten
Konzerte des Kellers bestritten – seit 2015 ist er mit verschiedenen
Formationen dabei.
Aufgenommen und abgemischt hat „The Gift“ Dietrich Petzold. Der Komponist
und Musiker ist Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre auf den beiden Alben
der Stefan Diestelmann Folk Blues Band zu hören gewesen, einer Formation,
für die Memphis in der DDR lag. Die jüngste Eigenveröffentlichung Petzolds
ist eine Aufnahme mit dem portugiesischen Impro-Geiger Ernesto Rodrigues,
mit dessen Sohn Guilherme am Cello und dem Berliner Bassisten Jan Roder.
Alle Beteiligten an „The Gift“ eint eine ziemliche Bandbreite. Matthias
Bauer hat sich nach dem Interview (wie alle am Telefon geführt) ins Studio
begeben, um eine Komposition des 2019 verstorbenen Komponisten Georg Katzer
zum Klimawandel mit einzuspielen. Dag Magnus Narvesen ist nach dem
Interview zum Jazzfestival Moers gefahren, um dort Corona zum Trotz in
verschiedenen Kombinationen mit dem Vibraphonisten Emilio Gordoa
aufzutreten. Ohne Publikum, aber trotzdem live: Die Konzerte waren im
Stream auf Arte zu sehen.
Und Conny Bauer hat sich kurzentschlossen ebenfalls auf den Weg nach Moers
gemacht, nachdem viele Künstler:Innen kurzfristig absagen mussten. Seine
nächsten Konzerte möchte er ab Mitte Juni wie gehabt vor physisch
anwesendem Publikum geben. Es geht wieder in eine Kirche – in Stralsund –
und danach auf ein Schloss – in Schwerin.
Conny Bauer, Matthias Bauer, Dag Magnus Narvesen: „[2][The Gift“
(NoBusiness Records])
3 Jun 2020
## LINKS
[1] /Archiv-Suche/!5585242/
[2] http://nobusinessrecords.com/
## AUTOREN
Robert Mießner
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