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# taz.de -- „Man darf sich schämen“
> Wir leben in einer Beschämungskultur, sagt der Psychiater und Autor
> Daniel Hell. Ein Interview über Scham als Zivilisierer, den Unterschied
> zu Schuld und Schande, über Narzissten und soziale Medien
Bild: Peinlich, peinlich … aber zum Glück ist Scham ein Gefühl, das vorübe…
Interview Doris Akrap
taz am wochenende: Herr Hell, wofür wurde die Scham erfunden?
Daniel Hell: Scham ist keine gesellschaftliche oder erzieherische
Erfindung, auch wenn sie der Mensch exklusiv hat. Nach bisherigen
Erkenntnissen gibt es kein Volk und keine Kulturepoche ohne Scham. Scham
scheint also biologisch beziehungsweise genetisch angelegt
Mit welcher Funktion?
Scham ist ein Taktgefühl für Nähe und Distanz. Und damit ein wichtiger
Regler für die zwischenmenschliche Kommunikation. Scham zeigt Grenzen und
betont das Intime. Scham macht auf einen drohenden Verlust aufmerksam: die
Achtung vor den Mitmenschen oder vor sich selbst. Scham ist also ein
Alarmsignal, das eine Identitätskrise anzeigt.
Hat Scham mit Schande zu tun?
Im Deutschen leitet sich Scham etymologisch von Schande ab, hat sich aber
als Begriff verselbstständigt. Scham fühlen wir als Subjekte. Von Schande
sind wir als Objekte betroffen. Im Englischen ist dieser Unterschied
zwischen Scham und Schande nicht so deutlich. Wo es im Deutschen „Ich
schäme mich“ heißt, sagt der Engländer: „I am ashamed“, also „ich we…
beschämt“, was so viel bedeutet wie: ich erfahre Schande. Die starke
Unterscheidung von Scham und Schande im Deutschen hat dazu geführt, dass
man sogar in der Psychologie zu wenig zwischen Scham und Beschämung
unterscheidet.
Worin genau liegt der Unterschied?
Wer sich schämt, geht mit sich selbst ins Gericht, beschäftigt sich mit
sich selbst, kritisiert sich selbst. Wer sich schämt, wird nicht
übergriffig oder attackiert das Gegenüber. Wer sich hingegen gekränkt und
narzisstisch verletzt fühlt, fühlt sich als Opfer und hat oft
Rachefantasien.
Sigmund Freud weist in seiner Psychoanalyse der Schuld eine große Rolle in
der Zivilisationswerdung zu. Ist Schuld ein anderes Gefühl als Scham?
Ja. Aber so einfach lassen sich Schuld und Scham nicht trennen. Neuere
neurobiologische Untersuchungen zeigen, dass bei beiden analoge Strukturen
im Gehirn aktiviert werden. Scham als basalere Emotion spielt beim
Schuldgefühl häufig mit. Die Psychoanalyse hat es der Theologie gleichgetan
und die Scham als zweitrangig bewertet.
Die Schuld ist aber erst mit Jesus beziehungsweise Paulus in die Welt
gekommen, oder?
Nein, das Alte Testament kennt Schuld sehr wohl. Tatsächlich ist aber das
erste Gefühl, das in der Bibel erwähnt wird, die Scham. Nachdem Adam und
Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, schämen sie sich. Auch
entwicklungspsychologisch ist ganz offensichtlich: Es braucht ein
Selbstbild, ein Selbstbewusstsein, eine Selbsterkenntnis, um sich zu
schämen. Doch seit der Theologie des Mittelalters wird Scham fast nur noch
im sexuellen Bereich diskutiert.
Wurde Scham als Zivilisierer bisher also unterschätzt?
Für den Zusammenhalt zwischen Menschen spielt sie eine entscheidende Rolle.
Der zivilisatorische Fortschritt war nur möglich, weil Menschen als soziale
Wesen eng und geordnet miteinander zusammenleben und voneinander lernen.
Hierfür, für diesen Ausgleichs- und Kommunikationsprozess, war und ist
Scham als Regulator von Beziehungen von größter Wichtigkeit. Wären wir
immer nur narzisstisch verletzt, gäbe es keinen Zusammenhalt und kaum
Fortschritt.
Gibt es schamlose Menschen?
Sicher. Da, wo Scham fehlt, sieht man, wie wichtig sie ist. Das kann zu
enormen kommunikativen Defiziten führen.
Es heißt, wer sich schämt, droht das Gesicht zu verlieren. Braucht die
Scham Blickkontakt?
Meistens. Man sieht es auch an den Reaktionen auf das Schamgefühl: Wer sich
schämt, wendet den Blick ab, macht sich klein, zieht den Kopf ein, möchte
verschwinden, sich ins sprichwörtliche Mauseloch verkriechen – also nicht
gesehen werden.
Sie sagen in Ihrem Buch, dass wir in einer Beschämungskultur leben.
Andererseits ist „Sie sollten sich was schämen“ ein Satz, den man heute
eher nicht mehr so oft hört.
Zum Glück. Denn Schamfähigkeit lässt sich missbrauchen und zur Anpassung
oder Unterwerfung von Personen instrumentalisieren. Der Satz „Schäm dich!“
ist doch im Grunde eine Beschämung. Er hat zur Folge, dass der so
Angesprochene sich allenfalls zu Unrecht schämt oder auch verletzt und
gekränkt reagiert.
Meinen Sie mit Beschämungskultur das, was auch unter dem Namen Public
Shaming bekannt ist?
Ja, zum Teil, und ich halte es für sehr gefährlich. Populisten nutzen
dieses Instrument für ihre Zwecke, indem sie andere erniedrigen und
kränken. Dieses Kränken wird leider oft als Ausdruck von Stärke
missverstanden. Das ist ein Problem und mit ein Grund für das Starkwerden
rechter Populisten.
Ein Beispiel?
Ich muss keine Namen nennen. Sofort fallen Ihnen prominente Politiker ein,
die keine Gelegenheit ungenutzt lassen, um beispielsweise auf Twitter
politische Gegner zu verspotten und klein zu machen. Dabei profitieren sie
von den Spaltungen in der Gesellschaft, die sie auf diese Weise ausnützen
und weiter verstärken.
Gleichzeitig behaupten Sie, unsere Gesellschaft schäme sich immer weniger.
Woran machen Sie das fest?
An meinen Patienten und an Untersuchungen. Immer mehr Menschen fühlen sich
gekränkt, gemobbt, von einem Shitstorm in den sozialen Medien getroffen.
Scham und Schuld stehen nicht mehr im Zentrum der menschlichen Interaktion,
sondern zunehmend Kränkungen und Beschämungen. Statt nach der eigenen
Schuld zu fragen, führt ein verbreiteter Narzissmus dazu, andere zu
kritisieren und zu beschämen. Das zeigt sich in der Politik, der Wirtschaft
und sogar der Wissenschaft.
Woran liegt das?
Eventuell am vielfach erbarmungslosen Konkurrenzkampf im Spätkapitalismus
oder am Neoliberalismus des Anything goes. Ganz sicher auch an den sozialen
Medien. Diese sind gesichtslos und das erleichtert es enorm, jemanden zu
kränken.
Raten Sie Ihren Patienten, dass sie sich lieber schämen sollen, als sich
gekränkt zu fühlen?
Nein. Aber es ist mir wichtig, die Scham nicht schlecht zu reden, wenn sie
auftritt. Man darf sich schämen. Scham ist ein Gefühl, das glücklicherweise
auch vorübergeht. Es kann – gerade in einer Therapie – auch eine Brücke
sein, um gemeinsam ein schwieriges Thema zu behandeln.
Meines Erachtens gibt es gerade eine Scham-Renaissance: Flugscham oder
Shoppingscham sind beliebte Begriffe, mit denen Politik gemacht wird.
Ihr berechtigter Einwand nimmt eine neue und überraschende Entwicklung auf.
Ich finde es gut, dass Scham wieder aufkommt – und zwar nicht negativ,
sondern als Problemanzeiger. Aber trotz ihrer derzeitigen Rehabilitation
wird die Scham ihren schlechten Ruf nicht so schnell los.
8 Feb 2020
## AUTOREN
Doris Akrap
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