# taz.de -- Nicht alles sagen, was man denkt | |
> Der Schriftsteller Ivo Andrić porträtierte Menschen mit Zweifeln und | |
> Obsessionen. Der Diplomat und Mensch Andrić ist dagegen schwer zu fassen, | |
> wie die Biografie von Michael Martens zeigt | |
Bild: Der serbische Schriftsteller, Essayist und Diplomat Ivo Andrić, die Foto… | |
Von Doris Akrap | |
Schriftsteller aus peripheren Weltgegenden werden in den Zentren meist dann | |
zitiert, wenn in der Peripherie gerade Krieg, Terror oder Naturkatastrophe | |
ist. Als vermeintlich unkorrumpierbare, objektive Beobachter werden sie | |
dann gefragt und für politische Interessen missbraucht. Der 1975 | |
verstorbene Ivo Andrić war Jugoslawiens einziger Literaturnobelpreisträger | |
(1961) und stellvertretender Außenminister (1920). Sein Roman „Die Brücke | |
über die Drina“ zählt zu den Klassikern der Weltliteratur. Im Gegensatz zu | |
den Einlassungen des ehemaligen SPD-Außenministers Rudolf Scharping. Zur | |
Begründung der ersten deutschen Kriegsbeteiligung nach dem | |
Nationalsozialismus hatte Scharping in einer Bundestagsrede im Juni 1999 | |
Andrić zitiert. Bosnien sei ein Land, in dem der Hass „angeboren, unbewusst | |
und endemisch“ sei. Es ging Scharping nicht um Bosnien, sondern darum, den | |
Einmarsch der Bundeswehr in den Kosovo zu legitimieren. Aber | |
Andrić’Bosnien, meinte Scharping, müsse man als Synonym für Balkan | |
verstehen. | |
Scharping war damals nicht der Einzige, der den bosnischen Autor zitierte, | |
um insbesondere die muslimische Bevölkerung des Balkans als hasserfüllt, | |
kriegsbesessen und grausam darzustellen. In Bosnien selbst gab und gibt es | |
unter muslimischen Intellektuellen eine Strömung, die Andrić und seine | |
Romane für rassistisch und islamophob hält. | |
Dass diese Interpretation selbst bösartig und falsch ist, legt Michael | |
Martens in seiner eben erschienen Biografie „Im Brand der Welten“ sehr | |
schlüssig dar. Er stellt fest, dass Andrić „schwer zu fassen“ ist, weil | |
„gleichsam auf Zehenspitzen durch das Leben schleichend“. | |
Der langjährige FAZ-Korrespondent Michael Martens verbindet in seiner | |
Biografie das umfangreiche Werk des Dichters auf sehr intelligente und | |
elegante Weise mit dem Leben des Mannes, der 1872 auf die Welt kommt, als | |
osmanischer Staatsbürger und Untertan des Sultans in ärmlichen | |
Verhältnissen im bosnischen Städtchen Travnik. Andrić ist gerüchteweise der | |
uneheliche Sohn einer Fabrikarbeiterin und eines Franziskanermönchs, wächst | |
bei seiner Tante in Višegrad auf, steigt unter dem jugoslawischen König zum | |
Botschafter in Hitlers Berlin auf und wird in Titos Jugoslawien der | |
prominenteste Schriftsteller der Region. | |
Andrić’„Grundeigenschaft“, schreibt Martens, sei „eine extreme | |
Zurückhaltung“. Das macht die Einschätzung, was Andrić, den hohes | |
diplomatisches und literarisches Geschick ebenso auszeichnet wie eine große | |
Portion Glück, über Politisches und Persönliches gedacht hat, schwierig. | |
Auch für jemanden wie Martens, der nicht nur Andrić’Werk und die | |
Sekundärliteratur sehr gut kennt, sondern auch deutsche, schwedische und | |
jugoslawische Archivdokumente sowie Andrić’Nachlass: Tagebücher, | |
Briefwechsel, unvollendete Werke und vor allem Notizbücher, die der | |
Schriftsteller „meine Scheune, mein Dachboden, meine Kammer, mein Keller“ | |
nennt. | |
Andrić eignet sich nicht als Held, es gibt etliche Episoden, die ihn eher | |
als Opportunisten erscheinen lassen. Andrić ist zwar niemand, der jemanden | |
ans Messer lieferte, urteilt Martens. Er „hilft aber auch niemanden, der | |
ans Messer geliefert wird.“ Der Journalist kann überraschende Einsichten in | |
die Ansichten des Schriftstellers und Diplomaten über sein Leben, die | |
Politik und die Liebe rekonstruieren. | |
Aber auch der Biograf kann an vielen Stellen nur spekulieren oder gar | |
nichts sagen. Etwa darüber, was Andrić wirklich von Hitler und Tito hielt | |
oder von Verehrern und Bekannten wie Ernst Jünger und Carl Schmitt. Der | |
mehrsprachige Andrić, der auch als Übersetzer arbeitete, war großer | |
Verehrer von Goya und Goethe, Thomas Mann und Knut Hamsun. Er fand: „Es | |
geht nicht darum, alles zu sagen, was man denkt; hauptsächlich wichtig ist, | |
nicht das zu sagen, was man nicht denkt.“ | |
Die diplomatische Laufbahn, die Andrić einschlägt, um in Ruhe an seinen | |
Romanen arbeiten zu können, führt ihn durch ganz Europa: Triest, Bukarest, | |
Graz, Marseille, Rom, Brüssel, Madrid, Paris, Berlin. Außerdem studiert er | |
in Krakau und Wien. Lange bevor es ein Metathema europäischer Debatten | |
wird, so Martens, schreibt Andrić über „die Frage, ob Orient und Okzident, | |
ob Europa und der Islam miteinander existieren können“. | |
„Was kümmert uns Wischegrad?“, hat Marcel Reich-Ranicki 1960 in seiner | |
Rezension der „Brücke über die Drina“ gefragt. Martens kann es ihm | |
erklären. Es gehe bei Andrić um moderne Menschen mit ihren Zweifeln, | |
Ängsten, Obsessionen und Hoffnungen: „Ehrgeiz und Liebeskummer, nächtliche | |
Existenzangst und morgendlicher Lebensdurst, Alpträume, Schnaps und | |
Blasenschwäche – alles da.“ Die osmanische Vergangenheit sei historische | |
Kulisse und Verkleidung. | |
Der Roman spielt in Višegrad, der Stadt an der Drina, in der Andrić | |
aufwächst und wo der katholische Kroate auf „von der ausgehenden | |
Osmanenzeit geprägte Menschen“ trifft. Diese werden das Panoptikum seiner | |
Literatur bevölkern: von „Wesire und Konsuln“ über „Der Weg des Alija | |
Djerzelez“ bis „Omer-Pascha Latas“. Die meisten Romane und Erzählungen | |
spielen im osmanischen Bosnien und handeln von Macht, Gewalt, Siegern, | |
Besiegten, Identitätskonflikten, Erniedrigung und Entwürdigung auf allen | |
Seiten der Flüsse, Berge, Geschlechter, Herrschenden und Parteien. | |
Mit der Flucht in die Vergangenheit habe sich Andrić auch vor politischer | |
Verfolgung schützen und unangreifbar machen wollen, meint Martens. Verfolgt | |
wurde Andrić zu Beginn des Ersten Weltkriegs, da er die Attentäter des 1914 | |
in Sarajevo ermordeten Erzherzogs Franz Ferdinand persönlich kannte und | |
zumindest ihre Ansicht, dass die Habsburger Monarchie aus Bosnien | |
vertrieben werden müsse, teilte. Schon zu Schulzeiten war Andrić Anhänger | |
der Idee eines Südslawien, der Vereinigung aller Südslawen, und blieb es | |
lebenslang, ob unter monarchistischer oder sozialistischer Regierung. | |
Leider geht dem Biografen Martens dort, wo es um die Rolle Andrić’in Titos | |
Jugoslawien geht, der klug abwägende Ton verloren. „Massenmörder Tito“ | |
heißt es gleich bei der ersten Erwähnung des Partisanenführers und | |
Staatschefs, „Menschenschredder“ nennt er den jugoslawischen Sozialismus. | |
Man fragt sich zumindest, warum der Journalist weder Hitler noch den | |
Nationalsozialismus zuvor so charakterisiert. | |
Martens meint, Andrić’Prosa lasse sich nicht verfilmen oder auf die Bühne | |
bringen, weshalb sein Hauptwerk auch nie so populär wurde wie etwa „Die | |
Blechtrommel“ von Grass. Und das, obwohl Regisseure wie Ingmar Bergman, | |
Andrzej Wajda und Emir Kusturica es versucht, aber aufgegeben hätten. | |
Diese sicher nicht ganz falsche Überlegung ist allerdings auch nicht ganz | |
richtig. Zwar hat Kusturica bisher „Die Brücke über die Drina“ nicht | |
verfilmt, aber Andrić’Erzählung „Buffet Titanic“, in der es um die | |
Vernichtung der Juden geht. | |
Die Geschichte Andrić’, aus der Scharping zitierte, heißt „Brief aus dem | |
Jahr 1920“. Sie handelt von dem Arzt Max Löwenfeld, der nach Bosnien kommt | |
und vor dem Hass dort wieder flieht. Nach Spanien, wo er 1938 bei einem | |
Luftangriff getötet wird. „So endete das Leben des Menschen, der vor dem | |
Hass geflohen war“, lautet das Ende der Geschichte. Der Hass in Bosnien ist | |
nicht Andrić’Thema. Sondern die Menschen und ihr Hass. Deutschland hat | |
Andrić nach seiner Abschiebung 1941 nie wieder betreten und jede | |
Veranstaltungseinladung in dieses Land abgelehnt. | |
Michael Martens: „Im Brand der Welten: Ivo Andrić. Ein europäisches Leben�… | |
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2019, 496 Seiten, 28 Euro | |
11 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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