# taz.de -- „Zur rechten Zeit geboren“ | |
> Barock-Orgelbauer Arp Schnitger, dessen 300. Todestag auch das Bremer | |
> Musikfest würdigt, profitierte vom Wirtschaftsboom nach dem | |
> Dreißigjährigen Krieg. Aber auch vom Willen der Marschbauern an Nordsee | |
> und Weser, mit den Städten gleichzuziehen und sich repräsentative Orgeln | |
> zu leisten | |
Bild: Erklingt zur Eröffnung des Schnitger-Schwerpunkts des Musikfestes Bremen… | |
Interview Petra Schellen | |
taz: Herr Vogel, hat Arp Schnitger wirklich einen neuen Orgelklang | |
erfunden? | |
Harald Vogel: Ja. Schnitger hat die Orgel für einen neuen Gebrauch fit | |
gemacht. Bis dahin wurde die Orgel ausschließlich liturgisch benutzt, indem | |
sie an bestimmten Stellen im Gottesdienst spielte. Vom 17. Jahrhundert an | |
setzte man die Orgel aber auch zur Begleitung des Gemeindegesangs ein. Dazu | |
musste das Instrument brillanter und lauter klingen, und dieses Timbre hat | |
Schnitger entwickelt. Es war das erste Mal in der Musikgeschichte, dass so | |
monumentale Klänge – von der unteren bis zur oberen Hörgrenze – zu hören | |
waren. Berühmt wurde Schnitger durch seine erste große Hamburger Orgel in | |
St. Nicolai, die leider 1842 verbrannte. Von da an bekam er Auftrag um | |
Auftrag – nicht nur an der Nordseeküste, sondern bis Portugal und Russland. | |
Schnitger war nicht der Einzige, der solche Orgeln baute. | |
Nein. Aber er hat dieses Grundmodell entwickelt und es durch geschicktes | |
Marketing geschafft, dass sich seine Konkurrenten nicht so entfalten | |
konnten. Er hatte Privilegien bei den umliegenden Fürsten und pflegte gute | |
Kontakte zu den Freien Reichsstädten Hamburg, Bremen und Lübeck und betrieb | |
ein geschicktes Werkstattsystem. | |
Dieses Filialsystem hat nicht Schnitger erfunden. | |
Doch, ziemlich. Das gab es zwar in geringem Maße schon vorher, aber | |
eigentlich hat Schnitger es entwickelt. Seine Hauptwerkstatt lag in | |
Hamburg, später in Neuenfelde im Alten Land, woher seine erste Frau stammte | |
und wo er auch begraben liegt. Nach 1700 verlegte er seine Produktion nach | |
Neuenfelde, weil in Hamburgs Innenstadt die Pest wütete. Vorher und | |
gleichzeitig betrieb er auch Werkstattfilialen in Bremen, Groningen, | |
Magdeburg, Berlin. Zudem war er preußischer Hof-Orgelbauer, denn seine | |
Orgeln waren hochwertig, nachhaltig und funktionieren auch nach 300 Jahren. | |
Warum sind von 170 Schnitger-Orgeln nur 47 erhalten? | |
Weil die betreffenden Kirchengemeinden irgendwann zu viel Geld hatten und | |
sie durch eine modernere Orgel ersetzten. Man muss bedenken, dass die aus | |
den 17. Jahrhundert stammenden Schnitger-Orgeln schon im 19. Jahrhundert | |
historische Instrumente waren, auf denen man nach-barocke Musik nicht gut | |
spielen konnte. Dass es heute noch Schnitger-Orgeln gibt, liegt also am | |
Geldmangel einiger Gemeinden einst. | |
Sie erwähnten Schnitgers effektive Geschäftspraktiken. Welche waren das? | |
Vor allem verfolgte Schnitger das Konzept der Qualität. Es sprach sich | |
herum, dass Schnitger-Orgeln perfekt funktionierten. Das war bei vielen | |
Mitbewerbern, die billiger waren, anders, weil sie nicht so gute | |
Materialien nutzten. Auch konnten Schnitgers Orgeln mit geringem Know-how | |
jahrzehnte-, jahrhundertelang instand gehalten werden. | |
Schnitger-Orgeln waren also die teuersten von allen? | |
Sie lagen im ganz oberen Preissegment, ja. Allerdings sind Orgeln schwer | |
vergleichbar. Für einen bestimmten Preis bekomme ich eine höherwertige | |
Orgel mit 25 Registern oder eine mit 35 Registern. Die bietet mehr | |
Klangfarben, hält aber nicht so lange. | |
Viele Schnitger-Orgeln stehen in Dörfern an der Nordsee und im Alten Land. | |
Warum konnten sich die Bauern das leisten? | |
Weil es den Landwirten der fruchtbaren Marschen im 17. Jahrhundert | |
wirtschaftlich gut ging. Das wollten sie zeigen – auch durch den Kauf | |
wertvoller Orgeln, wie sie sie in den Städten gesehen hatten. Dabei wollte | |
jedes Dorf die repräsentativste haben – auch wenn sie, nach heutigen | |
Maßstäben, eine Million Euro kostete wie in Lüdingworth bei Cuxhaven. Teils | |
hat Schnitger auch günstige Zahlungsbedingungen gewährt und die Gemeinden | |
bis zu 20 Jahre lang abbezahlen lassen. | |
Beruhte der Wohlstand der Bauern auch auf dem Wirtschaftsboom nach dem | |
Dreißigjährigen Krieg? | |
Ja, das ist ein wichtiger Grund für Schnitgers Erfolg: Er lebte zur rechten | |
Zeit am rechten Ort. Er wurde 1648 geboren, im Schlussjahr des | |
Dreißigjährigen Krieges. Dann brauchte man 20 Jahre, um die Kriegsschäden | |
aufzufangen, und anschließend begann ein Wirtschaftswunder, sodass sich die | |
Bauern diesen Luxus leisten konnten. | |
Und wo steht heute die besterhaltene Schnitger-Orgel? | |
Die berühmteste und größte steht in Hamburgs St.-Jacobi-Kirche. Das | |
hölzerne Gehäuse verbrannte im Zweiten Weltkrieg, aber Pfeifen und Technik | |
sind intakt, der Klang ist also orginalgetreu. Am besten erhalten im | |
umfänglichen Sinne ist die Orgel in Cappel bei Bremerhaven. Sie stand | |
früher in Hamburg. Am ursprünglichen Ort steht die Orgel in Dedesdorf an | |
der Weser. Sie ist nicht so groß, aber – außer den sichtbaren | |
Prospekt-Pfeifen, die im Ersten Weltkrieg eingeschmolzen wurden – komplett | |
erhalten. | |
Die Cappeler Orgel hat auch Schnitgers Wiederentdeckung befeuert. | |
Ja, sie wurde weltberühmt durch die „Archiv“-Produktion der Deutschen | |
Grammophon 1950/52. Damit hat die Plattenfirma damals PR für ihre neue | |
Presstechnik gemacht, bei der erstmals der gesamte Frequenzbereich auf | |
einem Tonträger wiedergegeben wurde. Durch diese weltweit vertriebenen | |
Platten ist auch Schnitger zu einem globalen Kulturprodukt geworden. Bis | |
heute werden auch in den USA, Kanada, Japan und Korea Schnitger-Orgeln | |
nachgebaut. | |
Der Nachbau-Hype überrascht, denn die kleinen Klaviaturen von | |
Schnitger-Orgeln eignen sich fast nur für Barockmusik. | |
Ja, eine historische Orgel bedeutet natürlich eine Festlegung auf ein | |
begrenztes Repertoire. In Hamburgs Jacobi-Kirche hat man, um das zu lösen, | |
in den 1950er-Jahren eine zweite, eher romantisch orientierte Orgel | |
danebengestellt. | |
Dieses Jahr wird Schnitgers 300. Todestag begangen, auch beim | |
Schnitger-Schwerpunkt des Bremer Musikfests. Starb er wirklich am 28. 7. | |
1719 in Neuenfelde, wo er begraben liegt? | |
Nein, das ist der dokumentierte Begräbnistag. Wann und wo er starb, wissen | |
wir nicht genau. Im Kirchenarchiv seines Geburtsortes Golzwarden in der | |
Wesermarsch wurde am 15. 7. vermerkt, dass Schnitger „vor etwa 14 Tagen“ | |
gestorben sei. Wir vermuten, dass er in der ersten Juli-Woche in Itzehoe | |
oder Glückstadt starb. In Itzehoe betreute er sein letztes Projekt, das er | |
nicht mehr fertigstellen konnte. Möglich aber auch, dass er zu dieser Zeit | |
aber auch in Glückstadt einen Kostenanschlag für die Reparatur der dortigen | |
Orgel vorbereitete, gesundheitliche Probleme bekam und starb. | |
Beginn des Arp-Schnitger-Festivals beim Musikfest Bremen: 25. 8., 17 Uhr, | |
Neuenfelde, St.-Pakratius-Kirche; www.musikfest-bremen.de | |
20 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |