# taz.de -- nordđŸthema: Von Kinderliedern und Erwachsenenmusik | |
> Kinder haben eine klarere Vorstellung, wie Musik zu sein hat, als viele | |
> Eltern denken. Selbst Free Jazz können manche Kinder etwas abgewinnen. Um | |
> besonders viele CDs und Konzertkarten zu verkaufen, spielen Musiker*innen | |
> so, dass auch Erwachsene etwas damit anfangen können | |
Bild: Wissen, wie man Kinder und Erwachsene auf die Konzerte bekommt: Die Hambu… | |
Von Lotta DrĂŒgemöller | |
Sie sind alle noch da: Alle meine Entchen schwimmen weiterhin auf ihrem See | |
und selbst das kranke HĂ€schen in der Grube siecht nicht so sehr dahin, dass | |
es nicht gleich wieder fröhlich durch die Amazon-Bestsellerliste hĂŒpfen | |
könnte. Die Traditionalisten können also aufatmen, wenn sie einen Blick auf | |
die bestverkauften Kinderlieder wagen. | |
Kindermusik ist ein riesiges GeschÀft, und es wÀchst in seiner Bedeutung: | |
Die deutsche Musikindustrie hat 2018 zehn Prozent ihrer UmsĂ€tze â das sind | |
158 Millionen Euro â mit Kinderprodukten gemacht. 2009 waren es noch 6,1 | |
Prozent. | |
Bei all der Auswahl sind, wie gesagt, die Klassiker nicht totzukriegen. | |
âIch denke, es kann fĂŒr ganz junge Kinder Sinn machen, wenn Musik klar | |
strukturiert ist, melodisch leicht erfassbar, wenn es den Tonraum einer | |
Quinte nicht ĂŒberschreitetâ, erklĂ€rt Veronika Busch, Musikwissenschaftlerin | |
an der Uni Bremen die anhaltende PopularitĂ€t. âDas macht es dem Kind | |
leichter, eine Ordnung zu erkennen. Zu einem klaren Rhythmus können sie | |
sich leichter bewegen.â âAlle meine Entchenâ etwa bietet bei aller | |
Einfachheit einen klaren Vorteil: Schon Kleinstkinder können die Melodie | |
erfassen und mitsingen. | |
Trotzdem will die Musikwissenschaftlerin den musikalischen Einfluss auf | |
Kinder auf keinen Fall auf diese Art Lieder beschrĂ€nkt wissen: âMan lĂ€uft | |
eher Gefahr, Kinder zu unterschĂ€tzen als zu ĂŒberschĂ€tzenâ, sagt Busch. â… | |
Lied darf nicht unterkomplex sein, sonst langweilt man sich schnell.â Ein | |
gutes Kinderlied, das lebe von einer gut erfassbaren Melodie und von der | |
Möglichkeit, dazu zu tanzen â âeigentlich das, was einen guten Popsong | |
ausmacht â und der sollte auch zwischendurch mal ĂŒberraschenâ. | |
Die Parallele zu Popsongs dĂŒrfe viele Eltern nicht wundern: Der dreijĂ€hrige | |
Rio singt gern Purple Rain, der fĂŒnfjĂ€hrige Theo ist Stereo-Totale-Fan, | |
Sophie hört mit ihren vier Jahren neben Heidi auch gern Santiano und Roger | |
Cicero. | |
Die Frage steht also im Raum: Brauchen Kinder ĂŒberhaupt eigene Musik? Rolf | |
Weinert ĂŒberlegt nur kurz, dann erzĂ€hlt er eine Anekdote. Seit 1992 macht | |
der Oldenburger mit den âBlindfischenâ Kindermusik. Als er das damals einem | |
Musikerkollegen aus den USA erzÀhlt habe, so erinnert sich Weinert, habe | |
der nur gefragt: âWas soll das sein, Musik fĂŒr Kinder? Musik ist doch fĂŒr | |
alle da.ââNatĂŒrlich hatte der völlig rechtâ, findet Weinert, âaber die | |
Themen, die mĂŒssen sich halt an der Erlebniswelt der Kinder orientieren.â | |
Was das ist, wird stets neu definiert. | |
Im 18. Jahrhundert war es vor allem eine Welt, in der sich Kinder auf das | |
Erwachsenwerden vorzubereiten hatten. Im 19. Jahrhundert entwarf der | |
populÀre August Heinrich Hoffmann von Fallersleben eine heile | |
Kinderliedwelt voller summender Bienchen und blĂŒhender Blumen. In | |
Kriegszeiten diente das Kinderlied zur Rekrutierung und Einnordung neuer | |
KrÀfte und ab den Sechzigerjahren wurde das Kind von der MusikpÀdagogik zu | |
Bewegungsspielen verleitet und von Alternativen als emanzipiertes Subjekt | |
zur Weltverbesserung entdeckt. | |
Die Oldenburger Blindfische selbst waren bei ihrer GrĂŒndung Anfang der | |
Neunzigerjahre noch Exoten auf dem Kindermusikmarkt. âRockmusik fĂŒr Kinder, | |
davon gabâs deutschlandweit vielleicht eine Handvollâ, erinnert sich | |
Weinert. Doch die Szene habe sich verĂ€ndert â das habe er nicht nur als | |
Musiker beobachtet, sondern seit 18 Jahren auch als Organisator des | |
Oldenburger Kindermusikfestivals. Genres fĂŒr Erwachsene spiegeln sich immer | |
mehr in der Kindermusik: EinflĂŒsse aus Pop und Rock, Punk und Techno, Rap | |
und Weltmusik spielen eine immer gröĂere Rolle. Ein groĂer Teil dieser | |
neuesten Kindermusik ist, wie könnte es anders sein, in Berlin entstanden. | |
Suli Puschban spricht mit dem rockigen âIch hab die Schnauze voll von Rosaâ | |
sicher einigen Eltern aus dem Herzen. | |
Mit ungewöhnlichen Rhythmen und Instrumenten erweitern âWir Kinder vom | |
Kleistparkâ die Kindermusikpalette in Richtung Weltmusik. Und Bummelkasten | |
macht dort, wo Rolltreppenmax seine Klopapierrollen hortet, mit Beatboxing | |
und lustigen Videos selbst Kindermelodien des alten Stils wieder | |
ertrÀglich. | |
Der Norden spielt aber weiterhin seine Rolle in dieser Entwicklung. Es war | |
der Hamburger Oetinger-Verlag, der 2015 Musiker von Olli Schulz ĂŒber Bela B | |
und Laing animierte, sich fĂŒr âUnter meinem Bettâ an Kindermusik zu wagen. | |
Herausgekommen sind auf mittlerweile fĂŒnf Alben relevante Texte und, ja, | |
ernstzunehmende Musik. | |
Prominentestes Beispiel fĂŒr die neueste Kindermusik sind ganz bestimmt | |
Deine Freunde. Die rappenden Hamburger scheinen selbst extrem viel SpaĂ zu | |
haben, wenn sie Omas Schublade auf Schokolade reimen und bieten mit | |
Refraintexten wie âSchatz, ich unterhalt mich geradâ vor allem den Eltern | |
selbstironischen Anlass zum Lachen. | |
Es ist kein Wunder, dass heutzutage diese Art Musik an Bedeutung gewinnt â | |
schlieĂlich hat sich auch das VerhĂ€ltnis von Eltern und Kindern noch einmal | |
sehr verÀndert. Es gibt mehr Eltern, die mit ihren Kindern Dinge | |
unternehmen wollen, gemeinsam. | |
Die Lebenswelt von Kindern kann aber anstrengend sein, zu anstrengend, wenn | |
sie ausschlieĂlich aus niedlichen Sternen und frechen HeinzelmĂ€nnchen | |
besteht. | |
Und so haben die neuen Kinderliedermacher gemein, dass in den | |
Produktbeschreibungen fast immer damit geworben wird, wie wenig die Musik | |
nervt, wie sehr sie fĂŒr Eltern geeignet ist. | |
âKinder kommen nicht allein auf Konzerteâ, weiĂ Weinert von den | |
Blindfischen. âDie Eltern sind immer eine HĂŒrde, ĂŒber die man rĂŒber muss. | |
Wenn die Erwachsenen was geil finden, gehen die mit den Kindern da hin.â | |
Und dann? Dann kommt es darauf an, auch die junge Seite zu ĂŒberzeugen. Das | |
geht auf Live-Konzerten nicht einfach mit den Songs, glaubt Weinert: | |
âKinder gehen nicht auf Konzerte, um Musik zu hören. Die wollen Teil der | |
Show sein.â Mitsingen kann dazu gehören, bestenfalls aber noch mehr Action: | |
âBeim FuĂballlied lĂ€uft unser Bassist als riesiger Schaumstoffball durch | |
die Menge, da brĂŒllen die Kinder.â | |
SpÀtestens aber mit der PubertÀt bekommt Musik eine andere Bedeutung, zur | |
Abgrenzung, zur IdentitÀtsfindung. Doch eigentlich, so | |
Musikwissenschaftlerin Busch, beginnt diese Phase schon viel frĂŒher: âWir | |
haben fĂŒr eine Studie Grundschulkinder befragt. AuffĂ€llig war, dass | |
besonders Jungen, und das galt ab der ersten Klasse, immer gesagt haben: | |
,Rockmusik, das ist meins, das ist cool.â Da hatte die identitĂ€tsbildende | |
Funktion von Musik schon eingesetzt.â | |
Auch Ulrike Schwarz weiĂ, das Kinder nicht automatisch so âoffenohrigâ | |
sind, wie es ihnen von der MusikpĂ€dagogik nachgesagt wird. âDas stimmt so | |
nicht. Kinder haben schon frĂŒh eine klare Vorstellung davon, wie Musik zu | |
sein hat. Improvisierter Jazz gehört beim ersten Hören nicht unbedingt | |
dazuâ, sagt sie. Die Dozentin an der Frankfurter Hochschule fĂŒr Musik hat | |
in Bremen gerade auf der Jazzahead! ein Seminar dazu abgehalten, wie | |
Kindern Jazz vermittelt werden kann. | |
Auf den ersten Blick bringt diese Musikrichtung nicht viel fĂŒr Kinder mit: | |
Das EingĂ€ngige geht freiem Jazz oft ab. âDafĂŒr bringt er aber per se das | |
Spielerische und Freie mitâ, glaubt Schwarz. âDas Motto ist doch: Wir | |
machen was gemeinsam und jeder kann sich selbst darin frei ausdrĂŒcken.â | |
Ein Jazz-Konzert wĂŒrde sie Kindern dennoch nicht unvermittelt zumuten, sagt | |
Schwarz. Ăhnlich wie Weinert glaubt auch sie, dass Kinder bei Konzerten vor | |
allem aktiv beteiligt werden mĂŒssen. Die beste Vorbereitung sei es, wenn | |
sie im Vorhinein selbst die Gelegenheit bekÀmen, gemeinsam mit KlÀngen zu | |
improvisieren. âBeim Sprechen darĂŒber kommt ganz viel neues VerstĂ€ndnis fĂŒr | |
Musik auf.â Was hat ĂŒberrascht? Hat jemand die Melodie eines anderen | |
aufgenommen? Waren KlÀnge laut oder leise, GerÀusche hell oder dunkel? | |
âWenn Kinder einmal so gearbeitet haben, können sie auch Jazzmusik was | |
abgewinnen â sie erkennen dann Strukturen wieder.â | |
FĂŒr Busch ist diese Art, den musikalischen Horizont zu erweitern, wichtig. | |
âKinder werden durch das elterliche Vorbild einer bestimmten Musikkultur | |
mehr ausgesetzt als anderenâ, sagt die Musikwissenschaftlerin. | |
Institutionen wie Kitas und Grundschulen mĂŒssten Musikstile vorstellen. âEs | |
geht nicht darum, alle Kinder zu Klassik oder Popmusik zu treiben, aber sie | |
mĂŒssen wissen, was es gibt. Nur so können sie Zuhören lernen und | |
entscheiden: GefĂ€llt mir oder nicht.â | |
17 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Lotta DrĂŒgemöller | |
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