# taz.de -- „Die Künstler sind oft sehr allein“ | |
> Das Festival Tanz im August widmet der amerikanischen Choreografffin | |
> Deborah Hay eine Retrospektive. Gespräch mit der Kuratorin Virve Sutinen | |
> über Jugend und Alter, Unterstützung von Frauen und Tanzgeschichte | |
Bild: „Es gibt Bedarf, mehr davon zu sehen, was Frauen gemacht haben“, sagt… | |
Interview Katrin Bettina Müller | |
taz: Frau Sutinen, seit 2014 leiten Sie das Festival Tanz im August. Tanzen | |
Sie eigentlich auch selbst? | |
Virve Sutinen: Viele aus unserem Team haben selbst getanzt. Ich bin mit | |
sechs Jahren in eine Ballettschule gegangen, alte russische Schule in | |
Helsinki, später dann auf eine professionelle Schule. In den 1980er Jahren | |
habe ich mich mit Choreografie beschäftigt und hatte eine eigene Compagnie, | |
alles Studenten, halb Amateure. 1995 habe ich mein letztes Stück für das | |
Helsiniki Festival gemacht, dann ging es weiter mit Schreiben, dem | |
Herausgeben einer Tanzzeitschrift, das Feld des Tanzes von einer anderen | |
Seite bearbeiten. | |
Denken Sie, dass die Erfahrung, selbst getanzt zu haben, die Wahrnehmung | |
von Tanz verändert? | |
Ich verstehe dadurch mehr, was Tänzer und Choreografen während der | |
Entwicklung eines Stücks durchmachen. Und ich kenne die Realität des | |
Betriebs im zeitgenössischen Tanz, weiß um die Schwierigkeiten, die knappen | |
Mittel, die Armut in diesem Sektor. Wenn man an das Anschauen von Tanz | |
denkt: Es wäre sehr gut, wenn jeder das Privileg hätte, schon an der Schule | |
tanzen zu lernen. Wenn man eine Beziehung zu den eigenen Bewegungen | |
herstellen kann, macht dich das zu einem guten Zuschauer. | |
Letztes Jahr wurde gefeiert, dass das Festival seit dreißig Jahren besteht. | |
Ist das Jahr nach einem Jubiläum schwerer? | |
30 Jahre bedeutet, ein erwachsenes und etabliertes Festival zu sein. | |
Letztes Jahr gab es besondere Unterstützung, mit der wir zeigen konnten, | |
dass Tanz im August das Potenzial hat, ein wirklich großes europäisches | |
Tanzfestival zu sein. Damit gibt es der Berliner Tanzszene etwas Besonderes | |
und rückt sie in einen globalen Kontext. Natürlich ist nach einer großen | |
Feier immer die Frage: was als Nächstes tun, nicht in Katerstimmung | |
geraten. Deshalb waren wir sehr froh, für dieses Jahr wieder eine | |
Retrospektive vorbereitet zu haben, von Deborah Hay. | |
Deborah Hay ist die dritte Choreografin in der Reihe. Sollen es immer | |
Frauen sein, ist das eine bewusste Setzung? | |
Das ist eine sehr bewusste Entscheidung. Auch wenn alle diese Frauen schon | |
Anerkennung erfahren haben für ihr Werk, sind sie nicht angemessen im Kanon | |
der Tanzgeschichte verankert. Es war das Schicksal aller drei | |
Choreografinnen, dass sie neben dem Tanz sehr viel andere Arbeit leisten | |
mussten, um sich den Tanz zu ermöglichen. Es gibt für Deborah Hay zum | |
Beispiel keine unterstützende Struktur. Die Künstler sind in ihrer Arbeit | |
oft sehr allein, sie mit unserem Festival unterstützen zu können ist | |
großartig. Die zwei Jahre unserer Zusammenarbeit für die Retrospektive sind | |
etwas besonderes, für sie und für uns. Wenn wir auf die überlieferte | |
Tanzgeschichte schauen, ist sie voll von Männern, deren Arbeit gut | |
erforscht ist. Da ist durchaus Raum und auch Bedarf, mehr davon zu sehen, | |
was Frauen gemacht haben. | |
Hay, die 1941 geboren ist, wird ein Solo zeigen, „my choreographed body … | |
revisited“. Eine Tänzerin in diesem Alter auf der Bühne ist ungewöhnlich. | |
Ist das ein Statement? | |
Vom Tanz wird oft gedacht, vor allem eine Kunst für junge Leute zu sein. | |
Aber das stimmt nicht, nur werden deswegen die Kämpfe ab 40, 50 härter. | |
Deshalb finde ich es fantastisch, das Festival mit dem Solo einer älteren | |
Tänzerin zu beginnen, die noch immer große gestalterische Energie hat. Seit | |
einiger Zeit lernen wir, dass Tanzkarrieren nicht mit 35 oder 41 Jahren | |
enden müssen. Für mich als Kuratorin gibt es einen weiteren Grund, auch | |
ältere Tänzer sehen zu wollen. Das ist die eigene Frustration – man wird | |
dreißig und schaut auf zwanzigjährige, man wird vierzig, fünfzig und schaut | |
immer noch auf zwanzigjährige Körper. Aber man geht doch ins Theater, um | |
sich mit etwas zu identifizieren, Erfahrungen teilen zu können. | |
Deborah Hay ist vor allem Insidern des Tanzes bekannt. Sie nennen sie eine | |
legendäre Figur. Wie würden Sie ihren Einfluss beschreiben? | |
Durch ihr Schreiben und durch ihre Workshops hatte sie Einfluss auf sehr | |
viele Tänzer*innen jüngerer Generationen. Sie hat mit Judson Church | |
begonnen, diese Epoche ist gut untersucht, da gab es letztes Jahr eine | |
große Retrospektive in New York im Museum of Modern Art. Wir konzentrieren | |
uns auf die Zeit nach 1968. Ihre Arbeit, die dann begann, ist eine Brücke | |
zwischen dem postmodernen Tanz und dem konzeptuellen Tanz, der in den | |
1990er Jahren kam. | |
Was ist für ein Nicht-Insider-Publikum an dieser Choreografin attraktiv? | |
Das ist die Bewegung, viel Bewegung. Die können verschiedenartig sein, es | |
müssen nicht die akademisch überlieferten Schritte sein. Zeitgenössischer | |
Tanz ist oft darauf konzentriert, den Verstand zu kitzeln, sich auf die | |
Gegenwart zu beziehen. Hays Vokabular als Choreografin ist sehr speziell, | |
fordernd, genau: Man meint, die Gedanken der Tänzer sehen zu können. | |
Es wird auch ein Programm zu Merce Cunningham geben, der dieses Jahr 100 | |
Jahre alt geworden wäre. Zwei Compagnien, Dance on und cnn Ballett de | |
Lorraine machen ein Cunningham-Programm – tanzen sie Stücke von ihm? | |
Wer mit seinen Stücken arbeiten will, muss mit dem Merce Cunningham Trust | |
zusammenarbeiten. Sie verwaltet seinen Nachlass, versucht ihn zu öffnen als | |
ein Archiv für jeden Interessierten. Thomas Caley vom Ballett de Lorraine | |
war ein Tänzer bei Cunningham. Er bringt so viel Authentizität hinein, wie | |
möglich ist. Aber es geht nicht nur darum; alte Stücke wiederaufzuführen, | |
hat eine eigene Problematik, denn natürlich haben sich die Körper | |
verändert, ihre Trainingsweisen, heute sind sie oft superathletisch. Ein | |
Stück aus den 1960ern verändert sich, von Körpern der Gegenwart | |
interpretiert. Aber in die Geschichte zurückzugreifen, das zu sehen, ist | |
auch gerade für jüngere Zuschauer wichtig. RainForest von Cunningham ist | |
ein Juwel, so wie man Shakespeare in der Schule liest, sollte man das | |
einmal gesehen haben. Das ist Teil unserer Kultur. Das Dance On Ensemble | |
aus Berlin beschäftigt sich mit einem sehr experimentellen Stück, das kann | |
nicht einfach nachgeahmt werden, das wird neu erfunden, es übersetzt die | |
Ideen in die Gegenwart. | |
Eine weitere Uraufführung, von Jérôme Bel, beschäftigt sich mit Isadora | |
Duncan, die von 1877 bis 1927 lebte. Im Grunewald in Berlin hatte sie mal | |
eine Tanzschule, 1904 begann das. | |
Isadora Duncan ist eine Ikone unserer Moderne. Sie ist ebenso ein großes | |
feministisches Vorbild, wie sie ihr eigenes Leben lebte und ihr Werk | |
erfand. Sie hat den Tanz wirklich revolutioniert, den Körper befreit – | |
alles, was wir in den 1970er mit der Release-Technik lernten, war bei ihr | |
vorgeformt. | |
Damit geht der Bogen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Für die Tanzgeschichte | |
ist mehr als 100 Jahre in den Blick zu nehmen viel, verglichen mit anderen | |
Kunstgeschichtsschreibungen immer noch jung. Bisher hat sich unser Gespräch | |
darauf konzentriert. Aber es ist auch auffallend, dass im Programm sehr | |
viele hier bisher unbekannte Namen auftauchen, viele junge Künstler dabei | |
sind. | |
Wir zeigen 31 Produktionen, viele Künstler*innen bringen wir erstmals nach | |
Berlin. Es gibt unterschiedliche Typen von tanztheatralen Arbeiten und von | |
abstrakten Tanzstücken. Es gibt Stücke mit Sprache und politischen Themen. | |
Viele aktuelle Diskurse werden aufgegriffen. Es geht um | |
Klassenzugehörigkeit wie in Oona Dohertys wunderbarem Stück „Hard to be | |
soft – A Belfast Prayer“. Man fühlt, wie es ist heute in Belfast zu leben, | |
die vorhandene Gewalt, welche Rollen die Frauen und die jungen Mädchen | |
spielen. Dann kommt Nora Chipaumire, die sich kontinuierlich mit ihrer | |
Schwarzen Identität beschäftigt, zwischen Simbabwe und den USA, nirgendwo | |
hineinpassend. Und in dieser Dualität gelingt es ihr, ihren eigenen | |
Ausdruck und ihre Freiheit zu finden. | |
Viele neue Namen, das ist sicher auch nicht einfach für die Vermittlung | |
ihres Festivals? | |
Tanz im August hat das Potential, viele Ideen davon, was Tanz sein kann, | |
weiterzugeben. Natürlich geht es auch um eine Balance zwischen Bekanntem | |
und emerging artists. Ich möchte gerne noch die junge Choreografin | |
Catherine Gaudet aus Kanada empfehlen, die mit unterschiedlichen Typen von | |
Physikalität arbeitet, mit tollen Tänzer*innen. | |
7 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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