# taz.de -- Liturgie für Automobile | |
> Romeo Castelluccis „La vita nuova“ und Robert Wilsons „Mary Said What S… | |
> Said“ – bei den Wiener Festwochen treffen Antipoden eines Theaters | |
> aufeinander, dessen schärfste Waffe die Selbstbezüglichkeit ist | |
Von Uwe Mattheiß | |
Der größte Kult der Welt hat keine Kathedralen. Automobilismus verlangt | |
Rausch nicht Kontemplation. Wandlung erfährt allein das Drehmoment. Romeo | |
Castellucci versucht mit „La vita nuova“ in einer Theaterinstallation aus | |
30 durch Entfernung der Motoren unschädlich gemachte Pkws dennoch | |
innezuhalten. | |
In Wien muss er dazu weit hinaus in die „Gösserhallen“ hinter dem | |
Hauptbahnhof. Wo einst Stückgut gelagert wurde, sind die Routinen | |
repräsentativer Kultur noch schwächer ausgeprägt und bis zur nächsten | |
Preisrunde der Immobilienentwickler in den urbanen Erweiterungszonen bleibt | |
etwas Luft. Ausgerichtet in drei Reihen lagert Castellucci seine | |
automobilen Readymades fast über die gesamte Halle. ZuschauerInnen werden | |
höflich zur Stirnseite komplimentiert wie hinter die Absperrung eines | |
Unfallorts. Blütenweiße Leintücher bedecken die Reliquien des | |
CO2-Zeitalters. Bühnennebel, eine Tonspur mit industrieaffinem | |
Klangmaterial und die ans Lichtpult gekoppelte Hallenbeleuchtung tauchen | |
den Raum ins Mehrdeutige. Asservatenkammer? Leichenschauhaus? | |
Nacheinander treten fünf schwarze Schauspieler ins Bild. Lange weiße | |
Messgewänder betonen ihre Körpergröße, Sandalen mit Absätzen heben Gestus | |
und Zeitmaß ihrer Bewegungen auf Kothurne. Hinzu kommen Wanderstecken, | |
Bischofsstab, ein goldener Ring. Ihr Ritus ist fremd, seine Emotionen sind | |
durchaus bekannt. Immer wieder mündet die Choreografie der Zelebranten in | |
Pathosformeln der Renaissancemalerei. Zehn Hände wuchten einen entkernten | |
Benz auf die Seite, drehen ihn über die B-Säule. Der Unterboden zeigt eine | |
antike Büste, dann einen Totenkopf, später ein Netz mit Orangen, die auf | |
den Boden geworfen werden. Eine wird von einem Audi Quattro überrollt. | |
Theater beginnt bei Castellucci dort, wo Zeichen nicht mehr kommunizieren, | |
sondern ob der Fülle ihrer Bedeutungen die Betrachtenden auf sich selbst | |
zurückwerfen. | |
Zum Ende der Liturgie folgt noch Text. Einer der Spieler rezitiert von | |
einer aufs Dach gestellten Limousine herunter aus einem Essay über den | |
Widerspruch im Begriff der Freiheit – wo im guten Leben sie sich erfüllt, | |
schwindet der Begriff, wo er debattiert werden muss, entbehrt man sie. | |
Schließlich die Reflexion über das Gebrechen der Kunst, selbst in ihren | |
radikalsten Momenten noch immer das Bestehende zu affirmieren und die | |
Utopie davon, dass Kunst nicht mehr Simulation sein möge, sondern das | |
gesellschaftliche Ganze ununterscheidbar durchdringt. Also sprach er und | |
verschwand. Asche aufs Haupt, keine Klimax, kein Finale, kein Applaus. | |
Selten entwickelt Verweigerung im Theater einen derartigen Sog auf die | |
Betrachtenden. Castelluccis „La vita nuova“ ist wie Dante ohne Beatrice. | |
Ein großer Abend. | |
Tags darauf luden die Festwochen wieder ins Wiener Museumsquartier. „Mary | |
Said What She Said“ erlaubt sich im Gegensatz zum Vorabend, Ereignis zu | |
sein. Allein der Name Isabelle Huppert scheucht auch die auf, denen Theater | |
sonst schnuppe ist. Ihr anderthalbstündiger Solovortrag imaginiert sich in | |
die Stunden vor Maria Stuarts Hinrichtung. Sie agiert in einer die ganze | |
Bühne fassende, sich stetig wandelnde Licht-und-Schatten-Skulptur von | |
Robert Wilson. Es ist eine jener klinisch-kühlen Abstraktionen, mit denen | |
Wilson dem Theater das Weltbebildern und den Menschendarstellungsunsinn | |
austreibt. Darin zählen allein der Rhythmus der Sprache, Raum- und | |
Körperwirkungen. Inhalt wird hier über die Form gemacht. So arbeitet Wilson | |
nahezu unverändert seit gut vier Jahrzehnten, aber man muss neidlos | |
konzedieren, dass das immer wieder aufs Neue spannend ist. | |
Isabelle Huppert steht im Halbschatten, in rotem Kleid mit reflektierenden | |
Elementen, Reifrock und Puffärmeln. Nach präzisen | |
Scherenschnitt-Choreografien beginnt sie zu sprechen und zu schreiten, vor | |
und zurück. Gleichförmig steigert sie beides, lädt ihren Körper auf bis zur | |
Erschöpfung, die in der Geste des stummen Schreis mündet. Huppert gelingt, | |
was nur wenige Menschen im Theater an ihrer Stelle packen würden, diesem | |
strengen formalen Gerüst Leichtigkeit und eine Freiheit im Ausdruck | |
abzuringen. Ihr Text ist ein Monolog in 80 Absätzen des Romanciers und | |
Essayisten Darryl Pinckney. Im Konzert mit Ludovico Einaudis Komposition | |
entlockt sie im peitschenden Sprechrhythmus dessen unterschwelligen Gesang. | |
Über Maria Stuart spricht, wer die Schmerzen des Fortschritts nicht | |
verschweigen kann. Schiller tat es, nachdem ihm die Französische Revolution | |
die Finger verbrannt hatte. Die maßlose Königin, die gegen jedes | |
Machtkalkül und alle abstrakte und politische Vernunft auf die erbliche | |
Legitimation von Gottes Gnaden pocht, muss an der Schwelle zum neuen | |
Zeitalter untergehen. Dennoch bleibt Trauer über vieles, was | |
frühbürgerlichem Furor zum Opfer fällt. Es sind nicht zuletzt die | |
versprengten Inseln weiblicher Autonomie, die von der neuen Tugend ersäuft | |
werden. Huppert und Wilson drehen im Theater am großen Rad, treiben seine | |
Repräsentationsmittel auf die Spitze, bis sie der Welt wieder fremd werden. | |
So fern Castellucci und Wilson einander sein mögen, sie sind komplementäre | |
Elemente eines Theaters, dessen schärfste Waffe Selbstbezüglichkeit ist. | |
4 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Uwe Mattheiß | |
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