| # taz.de -- Völkermord an den Armenier*innen: Eine Familie, die ihre Identitä… | |
| > Lamia Zengin ist eine von 200.000 Armenier*innen, die gezwungen sind, als | |
| > Muslim*innen in der Türkei zu leben. Ihre Großmutter verlor beim Genozid | |
| > 1915 Familie und Religion. | |
| Bild: Lamia Zengin in ihrem Garten in Eğil in der südosttürkischen Provinz D… | |
| Lamia Zengin ist offiziell als Muslimin registriert, doch die 76-Jährige | |
| weigert sich zu beten und zu fasten. Es ist für sie der einzige Weg, gegen | |
| den gewaltsam aufgezwungenen Glauben zu protestieren: Lamia Zengin stammt | |
| aus einer Familie, die nach dem Völkermord an den Armeniern 1915 | |
| zwangsislamisiert wurde. Die große schlanke Frau sitzt unter einem | |
| Pflaumenbaum in ihrem Garten in Eğil bei Diyarbakır. Ihr Gesicht und ihre | |
| Hände sind von tiefen Furchen durchzogen, sie trägt ein weißes schlichtes | |
| Kopftuch und lächelt nur selten. Zengin hat neun Kinder großgezogen und | |
| spricht die in Ostanatolien verbreitete Sprache Zaza. | |
| Lamia Zengins Großmutter Sara überlebte als junges Mädchen den Völkermord | |
| an den Armenier*innen in ihrem Heimatdorf Til Baǧdat im ostanatolischen | |
| Landkreis Dicle. Später heiratete sie Kasım, Zengins Großvater. Ob es eine | |
| Zwangsheirat oder eine Heirat aus freiem Willen war, weiß Lamia Zengin | |
| nicht. „Nachdem sie geheiratet hatten, nahm meine Großmutter den Namen | |
| Rihan an und wurde offiziell Muslimin.“ | |
| Von dem Völkermord an den Armenier*innen erfuhr Zengin durch die | |
| Erzählungen ihrer Großmutter. Die junge Sara verlor damals ihre gesamte | |
| Familie. Ein Großteil der in Eǧil lebenden Armenier*innen wurde in der Nähe | |
| von tiefen Brunnen zusammengetrieben, die auf Zazaki „Hezaz“ genannt | |
| werden, sie wurden mit einem Bajonett getötet und anschließend in diese | |
| Brunnen geworfen, so erzählte sie es ihrer Enkelin. Diese Brunnen in der | |
| Gegend von Eǧil wurden vor etwa zehn Jahren mit Beton zugeschüttet. Zengin | |
| kann sich daran erinnern, dass sie als Kind noch Knochen in den Brunnen | |
| gesehen hat. | |
| „Wenn der türkische Staat mich davon überzeugen will, dass ich muslimisch | |
| bin, dann muss er erst mal seine Schuld begleichen“, sagt sie. „Sie sollen | |
| mir die Gräber meiner Vorfahren zeigen, falls es welche gibt und wenn | |
| nicht, sollen sie mir einfach nur ihre Namen nennen. Was würde der Gott, an | |
| den sie glauben, davon halten?“ | |
| ## Viele Überlebende mussten ihre Identität leugnen | |
| Am 24. April 1915 wurden in Istanbul armenische Intellektuelle in ihren | |
| Häusern festgenommen und nach Ankara deportiert. Danach hörte man nie | |
| wieder ein Lebenszeichen von ihnen. Damit begann der Genozid an den | |
| Armenier*innen, die im Osmanischen Reich lebten. Am 27. Mai 1915 wurde das | |
| sogenannte Deportationsgesetz erlassen. Armenier*innen wurden von | |
| militärischen und paramilitärischen Gruppen in ihren Heimatorten | |
| zusammengetrieben und auf Todesmärsche geschickt. Auf dem Weg wurden sie | |
| von den Menschen, die sie während der Deportation schützen sollten, | |
| ausgeraubt und getötet. | |
| Bei Massakern und Todesmärschen wurden zwischen 1915 und 1916 nach | |
| Schätzungen 1,5 Millionen Armenier*innen ermordet. Viele der Überlebenden | |
| mussten später ihre Identität und ihren Glauben leugnen. Armenische Frauen | |
| wurden oftmals mit muslimischen Männern verheiratet, man änderte ihre Namen | |
| und machte sie zu Musliminnen. Die Hrant Dink-Stiftung, benannt nach dem | |
| 2007 ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink, geht in einem Bericht | |
| aus dem Jahr 2015 davon aus, dass rund 200.000 Armenier*innen gezwungen | |
| waren, sich zu assimilieren und in der Türkei als Muslim*innen | |
| weiterzuleben. | |
| Lamia Zengin sagt, sie habe zumindest innerhalb der Familie nie | |
| verschwiegen, dass sie Armenierin sei. Bei jeder Gelegenheit erklärt sie | |
| ihren Enkeln, dass sie Armenierin und stolz auf diese Identität ist. Ihre | |
| Großmutter sei genauso stur gewesen wie sie. Am meisten bereut sie heute, | |
| dass sie als Kind die Versuche ihrer Großmutter abgewehrt hat, ihr | |
| Armenisch beizubringen. Nur an das Wort „mangaǧ“, Sichel, kann sie sich | |
| noch erinnern. | |
| „Meine Mutter konnte Armenisch. Kurz vor ihrem Tod hat sie mir das | |
| Kreuzamulett meiner Großmutter geschenkt“, erzählt sie und zeigt die | |
| Halskette, die sie in ihrer Aussteuertruhe verwahrt. Dieses Kreuz habe sie | |
| lange Zeit vor den eigenen Kindern versteckt, genau wie ihre Mutter und | |
| ihre Großmutter. Die Großmutter habe das Kreuz bis zu ihrem Tod um den Hals | |
| getragen, eine Generation später sei es dann in ihre Hände gelangt. „Bevor | |
| ich sterbe, werde ich es einer meiner Töchter geben“, sagt Lamia Zengin. | |
| ## „Wer einen Beweis braucht: Hier bin ich“ | |
| Noch immer gehört der Völkermord an den Armenier*innen zu einem der größten | |
| Tabuthemen in der Türkei. Einige andere Länder haben den Völkermord | |
| inzwischen offiziell anerkannt. Der Bundestag hat 2016 einem Gesetzentwurf | |
| zugestimmt, der den Völkermord anerkennt. Frankreich hat im vergangenen | |
| Februar den 24. April zum „Gedenktag an den Völkermord an den | |
| Armenier*innen“ erklärt, so wie er in Armenien bereits seit langem begangen | |
| wird. | |
| In der Türkei hingegen ist laut Artikel 301 des Türkischen Strafgesetzes | |
| allein schon die Äußerung, dass ein Völkermord an den Armenier*innen | |
| stattgefunden hat, eine Beleidigung des Türkentums und kann zu einer | |
| Anklage führen. Denn die offizielle türkische Geschichtsschreibung leugnet, | |
| dass 1,5 Millionen Armenier*innen gestorben sind. Die Menschen seien | |
| während der Zwangsumsiedlung aufgrund von geografischen Gegebenheiten, aus | |
| Hunger oder an Krankheiten gestorben, heißt es hier. Glaubt man Yusuf | |
| Halaçoğlu, dem ehemaligen Vorsitzenden der Gesellschaft für Türkische | |
| Geschichte, haben von 438.000 zwangsumgesiedelten Armenier*innen 382.000 | |
| überlebt. | |
| Lamia Zengin wehrt sich gegen diese Verharmlosung. Die Erlebnisse ihrer | |
| Großmutter und ihre Schilderung der Ereignisse seien ein deutlicher | |
| Gegenbeweis. „Meine Großmutter hat mir von Armenier*innen erzählt, die in | |
| bodenlose Brunnen geworfen wurden, in den Augen meiner Großmutter habe ich | |
| gesehen, wie Armenier*innen dazu gezwungen wurden, Muslim*innen zu werden. | |
| Wenn sie einen Beweis brauchen: Hier bin ich.“ | |
| ## Nachkommen einer Familie, die ihre Vergangenheit verlor | |
| Einmal hat Lamia Zengin einige ihrer in Armenien lebenden Verwandten | |
| kennengelernt. Die Enkel einer Cousine ihrer Großmutter besuchten sie vor | |
| sieben oder acht Jahren in Eğil, genau kann sich Zengin nicht mehr | |
| erinnern. Ihr treten die Tränen in die Augen, wenn sie davon erzählt: „Die | |
| Verwandten aus Armenien in die Arme zu schließen fühlte sich für mich so | |
| an, als ob ich die Kindheit meiner Großmutter berühre.“ | |
| Den größten Teil ihres Lebens hat sie in ihrem Haus mit dem großen Garten | |
| verbracht. Sie glaube an Gott, sagt Zengin, allerdings an einen Gott ohne | |
| Religion. Auf der einen Seite ist da die islamische Religionszugehörigkeit, | |
| die sie in den offiziellen Urkunden und im gesellschaftlichen Bereich trägt | |
| und gegen die sie protestiert – und auf der anderen Seite die christliche | |
| Religionszugehörigkeit, die sie nie wirklich leben durfte und von der sie | |
| nicht viel weiß. Auch ihre Kinder tragen diese Bürde, Nachkommen einer | |
| Familie zu sein, die ihre Vergangenheit, ihre Identität verloren hat, sagt | |
| Zengin. Alles was sie sich von der Zukunft noch wünscht, ist, dass die | |
| Türkei die Ereignisse von 1915 offiziell als Völkermord anerkennt. Durch | |
| eine solche Aufarbeitung hofft sie vielleicht auch, Genaueres über die | |
| eigenen Wurzeln zu erfahren. | |
| „Wenn ich sterbe, werde ich meinen Kindern meine Starrköpfigkeit vererben. | |
| Diese Starrköpfigkeit ist der sture Wille, dass meinen Enkeln nicht | |
| passieren darf, was meiner Großmutter passiert ist. Menschen wie ich | |
| sollten keine Angst mehr haben, sie sollten reden. Sie sollten ihren | |
| Kindern zuliebe die Wahrheit sagen und ihre Herkunft nicht länger | |
| verleugnen.“ | |
| Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş | |
| 24 Apr 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Altan Sancar | |
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