# taz.de -- Wo die Körper über sich hinausgehen dürfen | |
> Immer wieder aufs Neue divers und mit der gebotenen Sensitivität bei | |
> Körperpolitiken: Die Tanztage Berlin in den Sophiensælen eröffnen | |
> traditionell das Kulturjahr der Stadt | |
Bild: Das Spiel mit dem Fall: Mit Mirjam Gurtners Choreografie „Skinned“ zu… | |
Von Astrid Kaminski | |
Geschenke auspacken? Supermarktschlangen zu Silvester? Luxus! Der Tanz | |
macht keine Pause. Im Sommer, wenn alle in die großen Ferien gehen, läuft | |
die Szene bei „Tanz im August“, dem größten deutschen Tanzfestival, auf | |
Hochtouren. Und in den Sophiensælen wird mit den „Tanztagen Berlin“ | |
traditionell gegen den Winterschlaf angetanzt. | |
Enthusiasten halt, die Tanzleute! Aber auch Pragmaten. Denn die Party zu | |
rocken, wenn alle anderen gerne mal abschalten, sichert natürlich | |
Aufmerksamkeit. Der Tanz, der in Berlin kein eigenes Haus hat, wo er sich | |
übers ganze Jahr austoben kann, stürmt in die Zeitnischen der anderen. Und | |
Anna Mülter, Kuratorin der Sophiensæle, lässt sich am Neujahrsmittag zum | |
Programm befragen. Was bei Mülters handfestem sozialen Impetus jedoch | |
durchaus auch eine Solidaritätsbekundung mit den Kolleg*innen von der | |
Stadtreinigung sein kann. | |
Bereits zum 28. Mal eröffnen die Tanztage Berlin wieder das Jahr, zum | |
fünften Mal unter dem Kuratorium von Anna Mülter. Überlaufen war dieses | |
Festival, das die neuesten Entwicklungen im Tanz-, Körper- und | |
Bewegungsdiskurs von in Berlin arbeitenden jungen Künstler*innen zeigt, | |
schon immer. Und auch divers: vom HipHop-Ballett über strenge Konzepte zur | |
modischen Beischlafakrobatik, Fitnesswahn, in Bewegung versetzte | |
Stillleben, Selbstfindung mit Tanzstil-Hopping, Wäscheklammer-Musical, von | |
der Lectureperformance im indischen Tanzstil Bharatanatyam zu neuem | |
Ritualtanz, mit Einsprengseln von Athener Anarcho-Kultur oder Teheraner | |
Undergroundszene bis zu der ziemlich angesagten Abschlussparty. | |
Unter Mülter bekam die Diversität allerdings mehr System. Nicht unbedingt | |
in Bezug auf die reine Tanztechnik, viel mehr in der Ausrichtung auf die | |
Aufhebung von gesellschaftlichen sowie ästhetischen Ausschlusskriterien. | |
Die Sophiensæle sind mit Franziska Werner in der Leitung, Joy Kristin Kalu | |
und Anna Mülter für Dramaturgie und Kuratorium, derzeit das feministischste | |
Theater überhaupt in Berlin, und das merkt man auch dem Tanztage-Programm | |
an. Fast alle Namen im Programm sind Frauennamen – wobei das nicht | |
unbedingt alles über die Gender der Künstler*innen aussagen muss. | |
So ist zum Beispiel auch Olympia Bukkakis dabei, die in Berlin für queere | |
Performance-Party-Formate wie „Apokalypse Tonight“ und „Queens against | |
Borders“ bekannt ist und sich im Tanztage-Stück „Gender Euphoria“ mit der | |
Bedeutung von Drag für nicht-binäre und Transpersonen auseinandersetzen | |
wird. Außerdem tritt sie auch wieder als Party-Host unter dem Motto „Get | |
Fucked“ in Erscheinung und liefert, um die Erwartungen zu diversifizieren, | |
gleich drei Definitionen zur Ansage: „1. Den Körper einer anderen Person in | |
sich aufnehmen. 2. In einen veränderten/erleuchteten Zustand aufsteigen. 3. | |
Eine Aufforderung, sich selbst zu verbessern oder sich aus einer Situation | |
zu entfernen.“ | |
Verbessert wurde in den Sophiensælen auch die Zugänglichkeit. Zwar müssen | |
Menschen mit Gehbeeinträchtigungen immer noch einen nicht öffentlich | |
zugänglichen Aufzug benutzen, dafür werden in diesem Jahr aber an drei | |
Abenden Audiodeskriptionen und eine „Haptic Access“-Tour angeboten. | |
Auch im Hinblick auf die Hintergründe der Künstler*innen ist eine erhöhte | |
Sensitivität im Umgang mit Körpern, die mit Funktionseinschränkungen | |
umgehen, geboten. So hat die Tänzerchoreografin Mirjam Gurtner, die sich in | |
„Skinned“ mit Sicherheitsverlusten beschäftigen wird, mehrere Jahre bei der | |
Londoner Candoco Dance Company, einer hochvirtuosen | |
Vorreiter-Inklusions-Tanzkompanie, gearbeitet. Angela Alves, die 2014 den | |
Verein TURN für Künstler*innen mit multipler Sklerose gegründet hat, | |
erforscht in „Soft Offer“ den „unberechenbaren Körper“, und die aus New | |
York übergesiedelte Perel, die sich selbst als „Künstler_in mit | |
Behinderung“ bezeichnet, spürt unter Publikumsbeteiligung dem | |
Machtverhältnis von Pflegenden und Gepflegten nach. | |
Da die Tanzdiskurse seit den späten Neunzigern immer mehr philosophisch und | |
soziologisch aufgeladen wurden, ist auch thematische Zugänglichkeit ein | |
Anliegen der Sophiensæle. An sechs Abenden kann über das Erlebte gesprochen | |
werden und den Fragen nachgegangen werden, wo Bewegung aufhört und Tanz | |
anfängt, durch welche choreografischen Methoden sich Systeme und Körper, | |
die immer auch politische und soziale Körper sind, begreifen und vielleicht | |
sogar verändern lassen. | |
Explizit zur Veränderung ruft außerdem die Tanztage-Alumna Kareth Schaffer | |
auf. Im choreografierten Gespräch „Dancing against the far right“ werden im | |
Tanzkontext entwickelte Formen von Solidarität und Widerstand auf ihre | |
soziale Anwendbarkeit hin untersucht. Trotz der klar gesetzten | |
sozialpolitischen Ausrichtung soll es jedoch auch Platz für Körperpoesie, | |
Mimikry, narrative Prothesen und andere Settings geben, in denen, wie Anna | |
Mülter es nennt, „Körper über sich hinausgehen können“. | |
5 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
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