# taz.de -- Tanz den Chromosomensatz! | |
> Im Rahmen des Festivals Tanz im August wagt Starchoreograf Wayne McGregor | |
> ein angenehm größen-wahnsinniges Experiment: Er lässt in „Autobiography�… | |
> seine DNA tanzen – zur Musik der US-Produzentin Jlin | |
Bild: Szene aus „Autobiography“ von Wayne McGregorFoto: Richard Davies | |
Von Jens Uthoff | |
Die eigene Biografie, die Gesamtheit des gelebten Lebens in ein einziges | |
Tanzstück von 80 Minuten fassen – kann das funktionieren? Um sich diesem | |
angenehm größenwahnsinnigen Vorhaben zu nähern, hat sich der britische | |
Starchoreograf Wayne McGregor mit den biologischen Grundlagen des Lebens | |
befasst: Er hat sein Genom entschlüsseln lassen. Aus den 23 | |
Chromosomenpaaren und deren unzähligen Erbinformationen werden bei McGregor | |
kurze Tanzepisoden, die zusammen das Stück „Autobiography“ bilden. Dabei | |
ist jede einzelne Aufführung anders: ein Algorithmus bestimmt, zu welchem | |
Chromosomenpaar und welchem Thema getanzt wird. | |
Ohne Kenntnis des Stücks könnte man den Ansatz auch biologistisch lesen, | |
und kompliziert hört er sich obendrein an. Doch wird die Idee am Samstag im | |
Rahmen des Festivals Tanz im August zu einem Abend großartiger | |
Bewegungskultur – und großartiger Musik. Denn der Soundtrack zu den | |
Tanzepisoden kommt von der US-amerikanischen Produzentin Jlin, deren | |
breakbeatreiche Musik den Stilen IDM und Footwork zugerechnet wird. Jlin | |
gehört zu den aufregendsten Elektronikmusikerinnen dieser Tage, ihre Stücke | |
zu „Autobiography“ werden Ende September auch als Album erscheinen. Jetzt | |
konnte man schon mal Probehören. | |
Das Bühnenbild im Haus der Berliner Festspiele wirkt unscheinbar, hat es | |
aber in sich. Wichtigstes Element ist eine absenkbare Decke, die aus | |
pyramidenförmigen Aluminiumskeletten besteht; die Tanzfläche illuminiert | |
sie zum Teil mit weißem oder rotem Licht. In einer Episode senkt sich die | |
Decke gar ganz auf die Tänzerinnen und Tänzer herab und verengt so den | |
Tanzraum. Dazu kommen Strahler und Stroboskoplicht von der hinteren | |
Bühnenwand, als Requisiten nutzt die zehnköpfige Londoner Kompanie | |
zeitweise einige wenige Stühle. Davon abgesehen gehört die Bühnenfläche | |
ganz den Tänzerinnen und Tänzern. | |
Diese tanzen den Chromosomensatz dann quasi nach Random-Prinzip – die | |
Einzelepisoden werden mit einer Übertitelung angekündigt, etwa „2 (dis) | |
equilibrum“, „4 knowing“, „19 ageing“, „14 lucent“. Dabei tanzt d… | |
Ensemble all die Facetten eines Menschenlebens abwechslungsreich und | |
eindringlich. Die Kraft entwickelt das Stück dank seiner Gegensätze: Da ist | |
manchmal die gesamte Kompanie auf der Bühne, zehn Tänzerinnen und Tänzer | |
bewegen sich dann zu kräftigen Bässen und Stotterbeats in hohem Tempo und | |
in stets neuen Formationen tastend umeinander herum. Im nächsten Augenblick | |
schleicht ein Trio im Zeitlupentanz wie auf Samtpfoten über die Bühne, dann | |
wieder sitzen alle einfach in einer Stuhlreihe, während Vogelgezwitscher | |
ertönt; daraus werden kurz darauf organische Bewegungen um die Stühle | |
herum, begleitet von Minimal Music. | |
Was Jlins Musik betrifft, so hat sie ihr Repertoire, das eigentlich vor | |
allem aus dominanter, fordernder, polyrhythmischer Musik besteht, deutlich | |
erweitert. Zu „Autobiography“ erklingen eben auch Minimal- und | |
Ambient-Klänge, es gibt Piano- und Streicherstücke im Soundtrack. Wechsel | |
zwischen laut und leise, zwischen hochdynamisch und ‚frozen’ sind zu hören, | |
die eben für die Wechselhaftigkeit, auch für die Unberechenbarkeit allen | |
Lebens stehen. Zum Thema „19 ageing“ erklingt passenderweise ein | |
Dark-Folk-Stück mit der mehrfach wiederholten Gesangszeile „Life’s not | |
always pain“. Sehr langsam schreiten sechs Tänzerinnen und Tänzer dazu in | |
einem großen Kreis, während drei Akteure in der Mitte tanzenderweise | |
aktives Anti-Aging betreiben. | |
In einer der gelungensten Episoden des Abends zirkulieren dann zwei | |
Tänzerinnen zum Minimal-Music-Sound elegisch umeinander herum, ehe sie zu | |
synchronen Bewegungen übergehen. Es ist ein sehr leiser Moment, das | |
Bühnengeschehen wirkt traumhaft fließend, bis kurz darauf rüttelnde Beats | |
und hohe Synthieklänge eine Zäsur setzen. Überhaupt, Zäsuren bestimmen | |
diesen Abend, bestimmen ein jedes Leben. Wayne McGregor ist bekannt dafür, | |
Stoffe von AlI bis hin zu Genetik in Tanz zu übersetzen. | |
Er selbst hat „Autobiography“ als „improvisatorisches Experiment“ | |
beschrieben, das in der Tradition des „Life Writing“ stehe, wie er dem | |
Guardian erklärte: „Das Leben entfaltet sich, ohne dass wir Kontrolle | |
darüber haben, und wir müssen uns zu den jeweiligen Umständen verhalten.“ | |
In diesem Sinne funktioniert „Autobiography“ hervorragend, denn das Stück | |
bildet die Zufälle und das Improvisierte einer jeden Biografie gut ab. Der | |
Überbau – der Versuch, die DNA zu tanzen – wirkt dagegen eher etwas | |
willkürlich, zu dick aufgetragen, vielleicht gar irreführend. Das Stück und | |
die Musik aber sind toll – und der lange Applaus im Haus der Berliner | |
Festspiele allzu verständlich. | |
20 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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