# taz.de -- nord🐾thema: „Der starre Viervierteltakt ist ein Missverständn… | |
> Musizieren – egal, was in den Noten steht: Die wahren Rhythmus-Pioniere | |
> im Programm des Musikfests Bremen könnten notfalls auf dem Markt Gemüse | |
> verkaufen, sagt Festivalchef Thomas Albert. Ein Gespräch über den | |
> begrenzten Wert von Schubladendenken, den nie endenden | |
> Avantgarde-Charakter Alter Musik und die Schätze vor der eigenen Haustür | |
Bild: Wo das Publikum nicht nur Frontal- bespielung erwartet: Eröffnungsabend … | |
Interview Petra Schellen | |
taz: Herr Albert, ab wann ist Musik alt? | |
Thomas Albert: Das Motto, das mich seit jetzt 29 Jahren Musikfest | |
begleitet, lautet: Alte Musik ist Musik von toten Komponisten. Ein | |
Schubladendenken bringt nicht viel, denn Alte Musik ist nicht zwangsläufig | |
altbacken, sondern muss im Kontext der Zeit begriffen werden. Wenn Sie | |
historische Musik unter diesem Aspekt betrachten, geht jede Generation den | |
Schritt in die nächste Avantgarde – bis man irgendwann bei den lebenden | |
Komponisten landet. Arnold Schönbergs Werke zählen selbstverständlich zur | |
Alten Musik. | |
Trotzdem klingt ein Festival für Alte Musik nach Renaissance und Barock. | |
Das sehe ich nicht so. Die Grundidee war zu zeigen, dass beim Musikfest | |
Bremen Alte Musik nicht nur diese vermeintlich verstaubte Barock-Ecke ist, | |
sondern dass man sie entdecken muss, als sei sie neu. Unser Ansatz lautet: | |
Die Tinte ist gerade trocken, und jetzt schauen wir das noch mal frisch an. | |
Diese Praxis beziehen wir sowohl auf die Renaissance als auch auf | |
Strawinsky, zumal wir versuchen, alle Stücke im Klangbild der jeweiligen | |
Entstehungszeit zu präsentieren. Dazu gehört auch der sehr bewusste Umgang | |
mit den alten Partituren. Fazit: Wir bieten Musik toter Komponisten, aber | |
immer mit dem „Versuch“ aktuellster Interpretationen. Zu Zeiten von Johann | |
Joachim Quantz und Carl Philipp Emanuel Bach waren Lehrbücher wie „Der | |
„Versuch über die wahre Art, die Flöte oder das Klavier zu spielen“ schwer | |
in Mode. | |
Und Ihr Festival sucht die „wahre Art“ von damals zu ergründen? | |
Ja. Bei 80, 90 Prozent der Stücke wissen wir, wie die Instrumente gebaut, | |
wie Klänge und Klangverhältnisse waren und wie Räume bespielt wurden. Heute | |
hat man den einen Konzertsaal, und da muss alles rein, weil es ja ein | |
klassisches Konzert ist. Das geht aus meiner Sicht gar nicht. Das müsste | |
man noch viel radikaler aufbrechen. Das heißt dann allerdings auch, dass | |
die Künstler in Kauf nehmen müssen, dass sie mal ein paar Cent weniger | |
verdienen, weil ein kleinerer Saal weniger Erlös bringt. Dafür gelingen | |
dort die akustische und emotionale Vermittlung der Musik sehr viel besser. | |
Wie ist der litauische Akkordeonist Martynas Levickis ins diesjährige | |
Programm gelangt? | |
Ganz einfach: Ich liebe dieses eigentlich mechanische Instrument, das | |
trotzdem ungeheuer lebendig ist. Denn das atmet! Sie können dynamisieren, | |
den Klang an- und abschwellen lassen, das ist ein betörend sinnliches | |
Instrument. Außerdem ist die „Quetschkommode“, die jeder von der Waterkant | |
kennt, ein lokaler Tupfer, eine schöne Farbe gerade für die | |
Festivaleröffnung. | |
Levickis wird auch ein Stück von Sibelius spielen, solo. Warum gibt es | |
eigentlich so wenig Orchesterkompositionen für Instrumente wie Akkordeon | |
und Dudelsack? | |
Das liegt an unserem Schubladendenken. Heute heißt es „Dies ist seriös“ u… | |
„Jenes ist Unterhaltung“, Volksmusik und Klassik – das sind Schubladen, m… | |
denen man sich das Einsortieren leicht macht. Der Markt, der gern mit | |
abgegrenzten Segmenten und Zielgruppen arbeitet, tut ein Übriges. | |
Arbeiten Folkloremusiker also gar nicht anders als klassische | |
Orchestermusiker? | |
Doch. Musiker, die aus dem folkloristischen Bereich kommen – sei es über | |
das Instrument oder das Repertoire – gehen von ihrer musikalischen Genetik | |
her anders mit Rhythmus um. Die sagen nicht: Ich teile den Takt in vier | |
gleiche Teile. Dieser starre Viervierteltakt basiert auf dem | |
Missverständnis, dass Rhythmus ohne sprachliche Längen und Kürzen | |
verstanden wird. Für das Wort „Apfelkuchen“ können wir zwar vier gleiche | |
Viertel notieren. Ausgesprochen haben wir aber vier ungleiche Werte, | |
verschieden lang und verschieden stark betont. | |
Zurück zur Musik ... | |
Der Viervierteltakt der Klassik ist zu mechanisch gesehen, der taugt nur | |
als Rahmen. Wenn aber ein Sänger nicht nur vom Konservatorium geprägt ist, | |
sondern außerdem weiß, wie man auf dem Markt Gemüse verkauft, haben Sie so | |
unschlagbare Typen wie Rolando Villazón, die den natürlichen Rhythmus von | |
Sprache in Musik transformieren – egal, was in den Noten steht. Das andere | |
Faszinosum an Volksmusik – und auch das finden Sie bei Akkordeon und | |
Bandoneon – ist die Lust am Spielerischen, zum Beispiel am Improvisieren | |
über eine ursprünglich schlichte Melodie. Hier entfernt sich die klassische | |
Musikerausbildung leider doch zu sehr von den zentralen musikalischen | |
Ausgangspunkten. | |
Auch der Abend „Renaissance trifft Romantik“ mit Stadtpfeifer-Musik des 16. | |
und 17. Jahrhunderts sucht vom Elite-Image traditionell verstandener Alter | |
Musik wegzukommen. | |
So einfach ist es nicht. „Stadtpfeifer“ bezeichnete eine Musikergruppe, die | |
sowohl Seriöses als auch leichtere Musik spielten. In Hamburg hießen (und | |
heißen) sie „Ratsmusiker“. Sie haben Ratsmusik gespielt zu offiziellen | |
Anlässen und außerdem – um ein bisschen Geld zu verdienen – zu Hochzeiten | |
oder Tanzabenden aufgespielt. An diesem Musikfestabend wird man Instrumente | |
hören, die heute kaum noch ein Ensemble professionell spielt – zum Beispiel | |
den Zink und die Schalmei. | |
Wer komponierte die Stücke der Stadtpfeifer? | |
Sie spielten alles, was da war: Lieder, Weisen, und das, was die Musiker | |
selbst schrieben. Damals studierte man ja nicht Komposition, sondern viele | |
Musiker schrieben selbst Stücke. Der Cembalospieler, der Organist und | |
Lautenist, die als Begleitinstrumente die Harmonien beherrschten, | |
komponierten meist auch selbst. Überhaupt waren der Musiker früherer Zeiten | |
weit vielseitiger als die heutigen. Man musste singen sowie mehrere | |
Instrumente auf hohem Niveau spielen können; das Musikergesamtbild war viel | |
komplexer als heute. | |
Wie kamen Sie auf das neue Musikfest-Thema „Katharinas Hofmusik“ auf | |
Schloss Jever? | |
Die russische Zarin Katharina entstammte dem Fürstenhaus von Anhalt-Zerbst, | |
das eng mit Jever verbunden war. Sie ist sogar einmal kurz in Jever | |
gewesen, war von 1793 bis 1796 sogar dessen Landesherrin. Wichtig ist aber | |
vor allem die große Musiktradition des Hauses Anhalt-Zerbst. Da ist etwa | |
Johann Friedrich Fasch zu nennen, ein vielfach unterschätzter, großer | |
Barockkomponist, der Kantaten, Opern, Arien sowie hervorragende Kammermusik | |
schrieb. Von ihm – aber nicht nur von ihm, sondern auch von seinen Kollegen | |
Georg Philipp Telemann, Arcangelo Corelli, aber auch einheimischen | |
Komponisten werden alle wichtigen Kammermusik-Editionen in der | |
Schlossbibliothek Jever verwahrt. | |
Und warum haben Sie das gerade jetzt ausgegraben? | |
Ich wusste seit Jahren davon und habe gesagt: Was in den – traditionell | |
bürgerlichen – Hansestädten fehlt, ist der höfische Aspekt. Es gab keine | |
Hofmusik in Hamburg, Lübeck und Bremen. Es gab die hanseatische | |
Musiktradition der Stadtpfeifer, der Ratsmusiker und der Kirchen. Und dann | |
in Hamburg ab 1678 das erste deutsche Opernhaus. Aber einen repräsentativen | |
Hof, wie er sich zum Beispiel in Zerbst nach Ende des 30-jährigen Krieges | |
nach französischem Vorbild überall entwickelte, findet man eher in Celle. | |
Also habe ich gesagt: Für Katharinas Zeit ist zwar keine Hofkapelle | |
nachweisbar, aber die Noten sind hier, und die nehmen wir zum Anlass für | |
Konzerte in Jever. Eine Idee dabei ist, den Menschen, die dort leben, zu | |
sagen: Ihr habt nicht nur euer Schloss und tolle Orgeln, sondern auch eine | |
eigene Geschichte der Barockmusik. Bei euch haben die wichtigsten Verleger | |
der Zeit ihre Unterlagen deponiert, und die wurden dort gespielt. | |
Wie wird „Katharinas Hofmusik“ weitergehen? | |
Wir fangen jetzt mit einer kleinen Zelle – dem Konzert des Solistensembles | |
der Akademie für Alte Musik Bremen – an, planen für 2019 einen Kurs | |
drumherum und werden 2020 in einem dritten Schritt ein Vermittlungsprogramm | |
initiieren, um den Musikern im Landkreis sowie den Kindern in den | |
Musikschule zu vermitteln, welche Schätze sie vor der Tür haben. Solch | |
regionale Themen sind wichtig für die Identifikation des Festivals. Denn in | |
einer globalen Welt ist es wichtig, auch die eigenen Wurzeln zu kennen. | |
Dann gibt es noch das Konzert „Reisende Musiker in Europa“, die Sie auch | |
„musikalische Migranten“ nennen. Aber waren das nicht eher Expats, also | |
Fachkräfte, die im Ausland Karriere machten? | |
Migranten im heutigen Sinn waren sie wohl nicht. Wir haben es eher mit | |
einem europäischen Musikerzirkus zu tun. Der setzt schon recht früh ein: | |
mit Heinrich Schütz, der ja immer „Vater der deutschen Kirchenmusik“ | |
genannt wird. Schütz war aber auch Pionier eines innereuropäischen | |
Musiktransfers, der den Musikgeschmack nachhaltig prägte. | |
Wie das? | |
Auslöser waren seine drei Studienreisen nach Italien, von wo er | |
italienische Einflüsse – etwa die Mehrchörigkeit – nach Deutschland | |
brachte. Andere deutsche Musiker lernten in Italien die Opernmonodie | |
kennen: einen Gesang, der sich musikalisch traut zu weinen, seine Klage | |
darzustellen. Im nächsten Schritt gab es dann italienische Musiker, die an | |
die Höfe nördlich der Alpen kamen. Das waren meist Leute, die sagten, da | |
ist ein anderer Markt, da bin ich gefragt. Dann haben Sie also italienische | |
Musiker, die eine Hofkapelle mit dem aktuellsten Geschmack prägen. So sind | |
viele musikalische Botschaftereien entstanden, und das macht den | |
Musikerzirkus so spannend. Bach hat Cembalostücke im italienischen Stil | |
geschrieben, Händel italienische Sänger nach London gelockt. Und wer in | |
puncto Inneneinrichtung etwas auf sich hielt, beschäftigte italienische | |
Stuckateure. | |
Wohingegen das „Musikfest surprise“ keinen roten Faden hat. | |
Nein, und das soll es auch gar nicht. Die Idee ist, an einer | |
Off-Spielstätte – in diesem Fall im BLG-Forum Überseestadt Bremen – in | |
einem eher klubartigen Rahmen Konzerte zu präsentieren. Sie sind gedacht | |
für ein Publikum, das keine Frontalbespielung will. Da gibt es Jazz, aber | |
auch klassische Experimente, um in einem anderen Rahmen Aufmerksamkeit zu | |
generieren. Der „Dear Esther“ überschriebene Abend etwa, mit dem Format | |
eines Internet-Games spielend, ist der Versuch, ein Videospiel mit | |
Instrumentalmusik und Gesang zu kombinieren. Und dann haben wir den Abend | |
„Thousands of Miles“ mit der Mezzosopranistin Kate Lindsey und dem | |
Pianisten Baptiste Trotignon: Das Konzert ist gedacht als Hommage an | |
Komponisten, die in den 1930er-Jahren vor den Nazis in die USA fliehen | |
mussten. | |
An wen erinnern Sie dabei konkret? | |
Da werden Werke von Kurt Weil erklingen, von Alma Mahler, Erich Wolfgang | |
Korngold und Alexander Zemlinsky. Das wird ein eher subtiler, teils | |
ironischer, in jedem Fall politischer Chanson-Abend. Musik muss ja nicht | |
immer plakativ daherkommen, sondern kann ja auch mal klüger verpackt sein. | |
14 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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