# taz.de -- Der befleckte Schädel der zornigen Göttin | |
> Mit „Facing India“, der ersten deutschen Gruppenausstellung indischer | |
> Künstlerinnen, lädt das Wolfsburger Kunstmuseum zu einer Achterbahnfahrt | |
> durch die Probleme Indiens ein | |
Bild: Göttin des Zorn, aber auch des Wandels: „And all the While the Benevol… | |
Von Petra Schellen | |
Das ist schon ein harter Anfang: Diese Hockende mit dem spermienübersäten | |
Schädel in der Hand, aus deren Hals Stahl ragt, als spritze Blut. Die | |
grausige Wächterin sitzt am Eingang der Ausstellung „Facing India“ im | |
Kunstmuseum Wolfsburg. | |
Sechs junge Künstlerinnen präsentieren sich dort, fünf von ihnen geboren, | |
alle ansässig in einem Land, in dem jährlich zwei Millionen Frauen | |
diskrimierungsbedingt sterben – als Fötus abgetrieben, unterernährt, nicht | |
krankenversorgt oder infolge der um sich greifenden „Brautverbrennungen“, | |
weil sie nicht mehr genug Mitgift brachten. Dies berichten in dem Band | |
„Indiens verdrängte Wahrheit“ die taz-, FAZ- und Zeit-Korrespondenten Georg | |
Blume und Christoph Hein, und es passt nicht ins Bild des boomenden | |
Hightech-Indien, um dessen Fachleute der Westen buhlt. | |
In der Wolfsburger Ausstellung wird man vor allem die Schattenseiten dieser | |
sozial und politisch stark auseinanderdriftenden Gesellschaft erleben. Denn | |
die aus verschiedenen Teilen und Schichten Indiens stammenden Künstlerinnen | |
setzen sich dezidiert mit der Ausgrenzung von Frauen und | |
Transgender-Personen, mit ökologischen Missständen sowie inner- und | |
außerindischen Grenzkonflikten auseinander. | |
Eine intensive Erfahrung kann man nennen, was man da in der ersten | |
Gruppenausstellung indischer Künstlerinnen in Deutschland erlebt. Das packt | |
einen schon, bevor man den Subtext von Bharti Khers bronzener „Hockender“ | |
am Eingang kennt. Deren voller Titel lautet „And all the While the | |
Benevolent Slept“. Der Schädel – anspielend auf den Kopf von Lucy, der | |
ältesten menschlichen Vorfahrin – ist mit schlangenförmig-spermienartigen | |
Bindis übersät. Bindis sind jene Punkte, die sich verheiratete Inderinnen | |
auf die Stirn malen oder kleben. Die hockende Figur selbst wiederum | |
erinnert an Kali, wichtige Hindu-Göttin des Zorns und des Wandels. Womit | |
neben der Vergewaltigungs-Assoziation wenigstens ein Fünkchen Hoffnung | |
aufblitzt. | |
Solche Bezüge auf religiöse Traditionen finden sich in der Ausstellung | |
immer wieder, und dem Appell, sich mit diesem Subtext zu befassen, folgt | |
man gern. Da ist zum Beispiel Vibha Galhotra, die sich als „Ökofeministin“ | |
bezeichnet. Für den 2015 entstandenen Film „Manthan“ hat sie den „heilig… | |
Fluss Yamuna erkundet, der durch Delhi fließt und den sie bis dato für | |
einen Abwasserkanal gehalten hatte. Privathaushalte und Industrie leiten | |
ihre Abwässer in den Fluss, mit dessen Wasser die Bauern ihre Felder | |
wässern, die Anwohner kochen und waschen; die Künstlerin sagt, sie hätten | |
sich ihrem Schicksal ergeben. | |
Aufgrund mangelnder Bildung seien viele zudem „nicht offen, etwas über | |
bessere Lebensbedingungen und Lebensweisen zu lernen“, sagt Galhotra im | |
Interview mit Ausstellungskuratorin Uta Ruhkamp. Auch sei es „fast | |
unmöglich, Menschen dazu zu bringen, die Dinge logisch zu betrachten, wenn | |
es um religiöse Traditionen geht“. Einmal habe sie ein Mann, den sie vom | |
Baden im verschmutzten Fluss abhalten wollte, beschimpft und gesagt, sie | |
beleidige den heiligen Fluss. | |
Doch die direkte Ansprache funktionierte nicht, also hat sich Galhotra auf | |
künstlerische Methoden besonnen und vier Menschen in Gummianzügen auf | |
Flößen durch den Fluss geschickt und gefilmt. Sie wühlen den Schlamm auf, | |
wie es in der indischen Mythologie die Götter des Wassers tun, um den | |
Nektar der Unsterblichkeit zu finden. Alsdann haben die Performer weiße | |
Laken ins Wasser getunkt und nach wenigen Minuten schwarz wieder | |
herausgezogen. Als gemächlich gefilmtes Stillleben ist das inszeniert. Es | |
wirkt wie ein archaisches, fast schicksalhaftes Ritual, eine so tragische | |
wie ironische Dystopie. | |
Auf den Fotos daneben bezieht sich die Künstlerin auf einen Text von | |
Nostradamus, der im 16. Jahrhundert weissagte, dass den Menschen eines | |
Tages Schweineschnauzen wachsen würden. Galhotra hat daraus eine Fotoserie | |
mit inszenierten Situationen gemacht, in denen Menschen – im Büro, auf der | |
Straße, in der Küche – Sauerstoffmasken tragen, die wirklich an Schweine | |
erinnern. Hintergrund ist die enorme Feinstaubbelastung großer Städte wie | |
Delhi, in denen man ohne solche Masken oft nicht nach draußen gehen kann. | |
Auch Reena Saini Kallat befasst sich mit dem Kampf um Wasser, der nicht nur | |
ein politischer, sondern auch ein Grenzkonflikt ist, und sie tut es auf | |
subtile, fast ironische Weise: Von Hand hat sie zum Beispiel eine Karte des | |
Ganges-Deltas gezeichnet, dessen Wasser sich Indien und Bangladesch teilen | |
müssen. Erst seit 2016, schreibt sie, existiere ein Vertrag, der Indien | |
verbiete, Bangladesch während der Trockenzeit das Wasser abzugraben. | |
Daneben hängen gezeichnete Kreuzungen aus Pflanzen und Vögeln, die | |
Nationalsymbole konfligierender Staaten sind. Markant ist der Hybrid | |
Ti-Khor, ein Mix aus Tiger und Markhor (der Schraubenziege), den | |
Nationaltieren Indiens und Pakistans. | |
All diese Bilder und Texte sind brav gerahmt wie in einem Naturkundemuseum | |
des 19. Jahrhunderts – eine kluge Umkehr der Zeit: Vermeintlich angestaubte | |
Exponate illustrieren die Angestaubtheit des Denkens in Grenzen. | |
Allerdings, unter jedem Bild klebt ein Stück Stacheldraht; kleiner | |
„Rückfall“ in die Gegenwart. Mit zu Stacheldraht geflochtenen Kabeln hat | |
Kallat auch die globalen Migrationsströme illustriert, die an einer großen | |
Weltkarte hängen. Leise tönt das Summen von Telefonen, manchmal auch eine | |
Sirene aus dem bunten Kabelsalat; Kommunikation kann so verbindend wie | |
ausgrenzend sein. | |
Auch Indien selbst sei nicht so plural, wie es von außen scheine, hat die | |
renommierte indische Autorin Arundhati Roy der „Süddeutschen“ 2017 gesagt: | |
„Im Westen hält man Indien fälschlicherweise für eine anarchische, | |
chaotische Gesellschaft.“ Dabei sei Indien ein Meister im Grenzenziehen und | |
„durch ein eisernes Gatter aus Kasten, Regionen, Religionen getrennt. Wer | |
als Hindu einen Moslem oder einen Angehörigen der Dalit-Kaste heiratet, | |
wird in der Regel mit dem Tod bestraft.“ | |
Oder ausgegrenzt wie die Hijras, Transgender-Personen, die der | |
hinduistischen Gesellschaft eigentlich heilig sind, in Wahrheit aber schwer | |
diskriminiert werden. „Und das ist weder ein West-Import noch ein Problem | |
der Städter“, sagt die Künstlerin Tejal Shah, die viele dieser Menschen | |
fotografiert hat. | |
„Women like me“ heißt, bewusst doppeldeutig, eine Serie von Hijra-Porträt… | |
„Untitled (on violence)“ ein Foto, auf dem ein Polizist auf eine Hijra | |
uriniert. Sie lässt bewusst im Unklaren, ob es Dokument oder Inszenierung | |
oder ein Hybrid aus beidem ist. Auch das Foto einer in der Dämmerung | |
brennenden, von Nachbarn beobachteten Person, spielt mit dieser | |
Authentizitätslücke, was das Entsetzen noch steigert, denn man ahnt: Das | |
Opfer könnte sowohl eine Hijra als auch eine Braut sein. Allein 2010, so | |
schreiben es Blume und Hein, habe das indische Amt für Kriminalstatistik | |
8.391 tödliche Brautverbrennungen gemeldet. Das sei fast eine pro Stunde. | |
Um diesen verstummten Frauen eine Stimme zu geben, hat Bharti Kher nicht | |
nur die erwähnte Kopflose am Eingang geschaffen, sondern auch eine Säule | |
aus roten Frauen-Armreifen, bedrohlich wie eine Ader vom Boden bis zur | |
Decke reichend. Daneben steht „The Deaf Room“, ein kleiner Raum aus | |
eingeschmolzenen, zu schwarzen Ziegeln geformten Armreifen – ein düsteres | |
Gedenk- und Grabmal von Millionen vergewaltigter, misshandelter, getöteter | |
Frauen. | |
Zu Lebzeiten werden sie laut Blume und Hein oft daheim unter Verschluss | |
gehalten, dürfen maximal über die Küche herrschen, diesen engen Raum. | |
Prajakta Potnis hat ihn noch enger gemacht: Sie hat das Gefrierfach eines | |
Kühlschranks zur Bühne gemacht und darin mal einen explodierenden | |
Blumenkohl, mal Verschlüsse von Schnellkochtöpfen fotografiert, die wie | |
Granaten wirken. | |
Selbst das Fenster der laufenden Waschmaschine kommt einem auf ihren Fotos | |
bedrohlich vor; jeder noch so harmlose Gegenstand kann für Potnis | |
verkleidete Bedrohung sein. Zumal in einem Überwachungsstaat wie Indien, in | |
dem laut Katalog 99 Prozent der Menschen über 18 in der weltweit größten | |
biometrischen Datenbank AADHAAR erfasst sind. Und irgendwann auch wir. | |
Facing India: bis 7. 10., Kunstmuseum Wolfsburg | |
10 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |