# taz.de -- Zaungast am eigenen Tatort | |
> Homophobie, Rassismus und soziale Scham: Thomas Ostermeier adaptiert an | |
> der Berliner Schaubühne „Im Herzen der Gewalt“ des 25-jährigen | |
> Schriftstellers Édouard Louis | |
Von Stefan Hochgesand | |
Drei Personen in weißen Schutzanzügen hantieren mit Rußpulver, | |
Abstaubpinsel und Klebefolie auf dem Boden. Ein forensisches Team zur | |
Spurensicherung am Tatort. Close-ups davon werden auf die übermenschlich | |
große Leinwand dahinter geworfen – und auf Édouard im mauvefarbenen | |
Pullover, der auf einem von vier Plastikschalensitzen im Hintergrund | |
wartet, als sei er Zaungast in seiner eigenen Einzimmerwohnung. Und seiner | |
eigenen Geschichte. | |
Gewissermaßen ist er das auch. Denn die kriminaltechnische und | |
-medizinische Untersuchung des Mordversuchs an ihm, wie das in der | |
Polizeiakte nüchtern heißt, verlaufen nach Mustern und auf Bahnen, die | |
Édouard (Laurenz Laufenberg) die Deutungshoheit auf das Erlittene | |
entreißen. Ein erster Versuch, die Kontrolle wieder zu erlangen: Er schafft | |
es zum Mikro an der Rampe, seine Blicke irren, ohne Halt zu finden; die | |
Live-Drums (Thomas Witte) und sein Erzählen nehmen dann aber doch gemeinsam | |
Fahrt auf. | |
Regisseur Thomas Ostermeier hat sich nach seiner vielgelobten und zu Recht | |
zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Inszenierung von Didier Eribons | |
Essay „Rückkehr nach Reims“ eine literarische Vorlage gewählt, die mit der | |
„Rückkehr“ seelen- und sujetverwandt ist: den zweiten autobiografischen | |
Roman des 25-jährigen französischen Bestseller-Autors Édouard Louis, „Im | |
Herzen der Gewalt“, vor nicht mal einem Jahr auf Deutsch erschienen. | |
In beiden Werken kehrt ein schwuler Ich-Erzähler nach einem | |
Schicksalsschlag zur Familie in die nordfranzösische Provinz zurück, wird | |
dort, mehr oder weniger kaschiert, mit Homophobie, Rassismus, Aufstieg der | |
Neuen Rechten, aber auch verdrängter Scham nach dem eigenen sozialen, | |
linksintellektuellen Aufstieg in Paris konfrontiert. | |
Doch während Ostermeier sich vom Wortlaut der „Rückkehr“ mutig weit | |
entfernte, um der Vorlage auf der Metaebene gerecht zu werden, ihr gar | |
etwas Unerwartetes hinzuzufügen, bleibt er bei „Im Herzen der Gewalt“ so | |
nah am Originaltext, wie es zwei Stunden Theateradaption nur irgendwie | |
erlauben – gleichwohl eine künstlerische Herausforderung, denn Édouard | |
Louis ist ein literarischer Formkonstrukteur sondergleichen: Im Roman | |
erfahren wir von Édouards Straßenflirt mit Reda in einer Weihnachtsnacht, | |
die zu einer leidenschaftlichen Liebesnacht wird, und davon, wie all das | |
umschlägt in Diebstahl und Vergewaltigung mit dem Revolver im Genick, durch | |
Édouards Schwester, Clara. | |
Sie berichtet es ihrem Mann Alain und kommentiert – auf der Grundlage | |
dessen, wie es Édouard ihr im Vorfeld wohl seinerseits erzählt hat; und | |
davon, wie er ihr erzählt hat, wie er das wiederum der Polizei und im | |
Krankenhaus erzählt hat, wo Außenstehende ihn zu ihrer rassistischen Lesart | |
des Verbrechens zu drängen versuchten: dass Reda, der | |
Migrationshintergründler „maghrebinischen Typus“, seinen Überfall auf | |
Édouard geplant habe und das nicht aus dem Affekt heraus geschah. Édouard | |
wiederum kommentiert dann Claras Kommentare. Das ist raffiniert | |
verschachtelt. | |
## Die Katastrophe trifft hart | |
Ostermeier überträgt das vorbildlich ins Szenische. Durch rasche | |
Kostümwechsel werden Clara (Alina Stiegler) und Alain (Christoph Gawenda) | |
zu besagten Forensikern, zur Polizei, zum Krankenhauspersonal, schlicht: | |
dem Strafverfolgungsapparat, der Reda am liebsten im Gefängnis sähe. Sie | |
sind, so passt es zum Roman, Störkörper in intimen Szenen, in die sie | |
„eigentlich“ nicht reingehören. | |
Alina Stiegler gelingt es prima, selbst ketterauchend im Leoparden-BH eine | |
empathische Clara darzustellen, die Édouard immer wieder klarer sieht, als | |
es ihm lieb ist. Christoph Gawenda wurde von der Regie hingegen mutmaßlich | |
zur wischmoppwedelnden Drag-Mama-Karikatur motiviert – schade! | |
Die Videoleinwand beschert uns derart persönliche Supernahansichten von | |
Laurenz Laufenberg (Édouard) und dem vor aller Gewalt verzaubernd | |
charmanten Renato Schuch (Reda) zusammen im kaum 90 Zentimeter breiten Bett | |
und wie sie sich dort einander hingeben und anvertrauen, dass die | |
Katastrophe einen fast so hart trifft wie im Buch. Das Herz des Romans | |
kriegt Ostermeier allemal zu fassen, wenn auch nicht jede Ader. Man sollte | |
einfach auch das Buch lesen. | |
6 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Stefan Hochgesand | |
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