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# taz.de -- Masturbation und Melodram
> Die Schaubühne setzt beim 18. FIND-Festival mit vielen Stammgästen auf
> nachhaltigen Kulturaustausch. Sternstunde: Angélica Liddells animalische
> Messe des Bösen
Bild: „¿Qué haré yo con esta espada?“ von Angélica Liddell
Von Barbara Behrendt
Nach zweieinhalb Festivalwochen sind es immer noch Magenschläge aus der
Eröffnungsinszenierung, die manchen Tag- und Nachttraum aufmischen. Ein
nacktes Mädchen, makellose Alabasterhaut, eine Botticelli-Fantasie – auf
ihrem Kopf ein glitschiger Oktopus, seine Arme führt sie sich in jede
Körperöffnung ein, stöhnt ekstatisch. Sieben weitere viel zu junge blonde
Unschuldsgöttinnen, sie peitschen sich mit den Saugnapfarmen, setzen ihren
Schoß lüstern auf das tote Tier, reißen es in Stücke. Ein obsessiver
Veitstanz, eine artistische Massenmasturbation, dazu beißender
Fischgestank. Minuten später: Die acht Grazien liegen erschöpft
übereinander, ein Mädchenfleischberg. Vor ihnen ein asiatischer Mann, der
zärtlich berichtet, wie er den noch warmen Körper seiner Kommilitonin
zersägt, ihre Nase abbeißt, ihre Brüste im Ofen brät – und verspeist.
Der Appetit in der Pause hält sich in Grenzen. Erstaunlich, wie viel
Abscheu die katalanische Performerin Angélica Liddell hervorrufen und
gleichzeitig Bilder von faszinierender Schönheit entstehen lassen kann.
Liddell zitiert in „¿Qué haré yo con esta espada?“ („Was werde ich mit
diesem Schwert tun?“) zwei Pariser Gewalttaten – den Terroranschlag auf das
Bataclan 2015 und den kannibalistischen Akt eines japanischen Studenten
1981 – und nutzt beide für eine monströse Messe des Bösen, eine Feier des
Antimoralischen und Antirationalen, gleichzeitig ein Hohelied der Liebe,
ein dionysisches Fest. Furios Liddells Solo: Hier steht eine besessene
Künstlerin, eine famose Sprachakrobatin, die der lauwarmen westlichen Welt
die Gleichgültigkeit austreiben und die Leidenschaft, den Hass, den Blick
in den Abgrund lehren will.
Eine Theatersternstunde in krassem Kontrast zu dem, was Liddell 2017 zur
FIND-Eröffnung präsentiert hatte: banale Pseudoprovokation, die darunter
litt, dass die Performerin nicht selbst auf der Bühne stand. Dass die
Schaubühne sich von diesem Fehlschlag nicht verschrecken und die Spanierin
auch das 18. Festival eröffnen ließ, zeugt von Souveränität – und einem
Konzept, das auf nachhaltigen Kulturaustausch setzt statt nur auf das
Abfeiern der gängigen Festivalcharts.
Auf ungewöhnlich viele Bekannte aus vergangenen Jahren traf man diesmal:
Wajdi Mouawad, Mapa Teatro, Rodrigo García, Ofira Henig. Nicht alle zeigten
sie ihre besten Arbeiten. Und auch unter den neuen Namen gab es manche
Enttäuschung: „El Hotel“ von der chilenischen Gruppe „Teatro La María“
blieb, auch wegen des burlesken Pipi-Kacka-Humors seiner an Alzheimer
erkrankten Militärjunta-Figuren, eine kaum nach Berlin transferierbare
Veranstaltung für Pinochet-Traumatisierte.
Es steht der Schaubühne, deren weltweit umjubelte Gastspiele das Haus
mitfinanzieren, gut an, selbst auch internationale Künstler ans Haus
einzuladen. In seinen 18 Jahren ist das Festival, trotz eines geringen
Etats, groß geworden – und dauert 17 statt 10 Tage. Mithilfe der
Bundeskulturstiftung konnten 2018 renommierte Produktionen geholt werden,
für die sich in Berlin kein anderes Theater zuständig fühlt.
„Saigon“ etwa, von der 36-jährigen Französin Caroline Guiela Nguyen – d…
Publikumshit beim Festival d’Avignon. Der Gegensatz zu Liddell könnte
größer nicht sein: Im naturalistischen Bühnenbild eines vietnamesischen
Imbiss erzählt Nguyen die melodramatische Liebesgeschichte zwischen einem
Exilvietnamesen, der 1956 im Indochinakrieg ohne die Frau seines Lebens
nach Paris flieht und erst 40 Jahre später zurückkehren darf. Eine geradezu
hollywoodeske Erzählung voller Sentimentalität und Streichmusik. Aber auch
eine leicht zugängliche Geschichte über Einsamkeit, den Verlust von Heimat,
die Brutalität von Regimes. Zu Tränen rührte das in Berlin, anders als am
Odéon-Theater in Paris, kaum jemanden – Standing Ovations gab’s allemal.
Liddell und Nguyen, auch das Teatro La María docken mit der Erinnerung an
zurückliegende Grausamkeiten locker ans (ironische!) Festivalmotto „Die
Kunst des Vergessens“ an. Sie alle, das ist beim FIND Bedingung, haben den
Text für ihre Inszenierung selbst geschrieben. Die Schaubühne setzt damit
seit fast zwanzig Jahren auf ein internationales autoren- und textbasiertes
Theater – in Berlin ist das konkurrenzlos. Das Festival steht, auch was die
Auslastung angeht, gut da.
Seine Finanzierung dagegen weniger: Die zurückliegenden drei Jahre hat die
Lotto-Stiftung gefördert, jetzt gibt die Kulturstiftung des Bundes Geld –
aber wie geht’s weiter? Wie gut, dass der Kultursenat für solche
„stadtpolitisch relevanten“ Festivals gerade einen 3,5-Millionen-Euro-Fonds
aufgelegt hat. Nur: Das FIND erhält daraus keinen Cent. Die „Empfehlungen
unterschiedlicher Jurys“ sprachen sich für kleine, freie Projekte wie
„Freischwimmer“ und „XJazz“ aus – das einzige internationale
Autorentheaterfestival Berlins fiel hinten runter.
23 Apr 2018
## AUTOREN
Barbara Behrendt
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