# taz.de -- Ein Wolf, eine Hexe, der Krieg | |
> In der Neuköllner Oper verbindet die Regisseurin Ulrike Schwab „Hänsel | |
> und Gretel“ mit Erzählungen von Kindern auf der Flucht | |
Von Katrin Bettina Müller | |
Sieben Mädchen in einem dunklen Zimmer: Erst sieht man sie gar nicht | |
zwischen den Möbeln auf der Bühne der Neuköllner Oper. Die sieben | |
Schwestern verstecken sich wie die sieben Geißlein im Märchen hinter | |
Sesseln, in Schubladen, unterm Bett. Schleicht ein Wolf ums Haus? | |
Nein, aber die Angst. Kriegslärm ist zu hören. Er blendet sich über die | |
Musik, die sehnsuchtsvoll im Dunkeln zu hören war, leise erst und kratzend, | |
wie von einem alten Grammofon kam die Ouvertüre der Oper „Hänsel und | |
Gretel“ von Engelbert Humperdinck. Bald kommen die Mädchen aus ihren | |
Verstecken und erzählen sich: wie der Abschied war vom alten Haus; wie der | |
letzte Zug nach Westen sie an der Bahnsteigkante zurückließ; wie sie im | |
Wald umherirrten, allein, ohne Vater, ohne Mutter; wie sie Hunger hatten. | |
Dann greifen die sieben mit ihren dicken Zöpfen und langen Haaren in dieser | |
Inszenierung der Regisseurin Ulrike Schwab in die Schubladen und die | |
Kästen, holen Violinen und Flöten hervor und musizieren zusammen. Zart, | |
lyrisch und intim ist diese Musik, sie hält das Grauen der Erinnerung etwas | |
fern, wie das war, als sie rohes Pferdefleisch aßen. Bis eine von ihnen mit | |
einem harten Holz auf das Klavier hämmert. Sie singen, „Hunger ist der | |
beste Koch“. | |
Ulrike Schwab nutzt in ihrer Inszenierung „Wolfskinder“ dokumentarische | |
Texte, die von Kindern erzählen, die als Deutsche aus Ostpreußen von der | |
Roten Armee vertrieben wurden und in die Wälder in Litauen flüchteten. | |
Teilweise wurden sie von Bauern aufgenommen und gerettet. Die Sängerinnen | |
und Musikerinnen sprechen diese Passagen, streuen sie zwischen die | |
musikalischen Szenen der verlorenen Kinder aus der Oper „Hänsel und | |
Gretel“. Tobias Schwenke und Markus Syperek haben deren Musik für eine | |
kammermusikalische Aufführung umgeschrieben, die immer die Sehnsucht nach | |
einer aufgeräumten bürgerlichen Welt in sich trägt, nach einer großen | |
Familie, die unter dem Schein der trauten Lampe mit ihren Instrumenten | |
zusammenkommt. Aber dabei sieht und hört man, wie dieses feine Klanggewebe | |
nur eine zarte Illusion ist, ein vorübergehendes Zusammenfließen der | |
Gefühle, ein Moment von Gemeinsamkeit, stets bedroht von äußeren | |
Ereignissen, Krieg, Vertreibung, Flucht. | |
Oft sind die akustischen Übergänge in dieser Musiktheater-Collage etwas | |
abrupt, nicht immer versteht man den gesprochenen Text, nicht alle | |
Musikerinnen artikulieren gleich gut. Aber das ist nebensächlich. Das | |
Bühnenbild von Rebekka Dornhage Reyes und das bewegte Spiel der | |
darstellenden Musikerinnen hält die Ebenen des Märchens und der Geschichte | |
zusammen. Vielleicht erzählen sich die Kinder auf der Flucht das Märchen, | |
das gut ausgeht, um Hoffnung zu bekommen. Vielleicht können sie später nie | |
über das eigene Erleben direkt reden, sondern nur vermittelt über | |
fantastische Bilder. Vielleicht ist das Märchen selbst auch eine getarnte | |
Erzählung über Krieg, in der das Böse eine Hexe ist. Alles ist möglich. | |
Wieder in der Neuköllner Oper 8.–11., 16.–18., 23./24. Februar | |
5 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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