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# taz.de -- Apathie und Enthusiasmus
> Wiederentdeckung: Die ersten beiden Alben der nordenglischen Postpunkband
> A Certain Ratio werden wieder zugänglich gemacht
Bild: Funky New Wave im spätviktorianischen Manchester. A Certain Ratio
Von Lars Fleischmann
A Certain Ratio ist nicht gerade die erste Band, auf die der Gedanke fällt,
wenn man über Manchester redet. Auch fällt der Bandname A Certain Ratio
nicht als Erstes, wenn es um das legendäre Label Factory Records geht,
obwohl das Quintett genau wie die Zugpferde Joy Division wichtig für die
unabhängige Plattform war. Im besten Falle sind die vier Nordengländer eine
„band’s band“; also eine Combo, die oft von Künstlerkollegen aufgerufen
wird. Als Inspirationsquelle wurde ACR – wie Fans die Band liebevoll
abkürzen – oft genannt: von den Happy Mondays, von Franz Ferdinand und auch
von LCD Soundsystem. Was macht diese Band also aus, die anscheinend am
Erfolg anderer mitbeteiligt war?
Dieser Frage darf man seit Kurzem wieder auf den Grund gehen. Drei der
insgesamt elf Alben sind nun dankenswerterweise wieder aufgelegt und laden
zum Detektivspiel ein: Was fehlte den Musikern zum Legendenstatus?
Ein Blick in die Geschichte von ACR ist unumgänglich: 1978 gründeten Simon
Topping (Gesang), Peter Terell (Gitarre), Jez Kerr (Bass) und Martin
Moscrop (Gitarre) noch als Teens die Band; der afrobritische Drummer Donald
Johnson folgte alsbald. Nun spielte man sich inkohärent durch Manchester,
das gerade in einer Punk-Blütephase steckte. Nach dem Untergang
verschiedenster Industriezweige lag die Stadt ökonomisch am Boden. Neben
Fußball konzentrierten sich fortan überall Kids auf Musik und Kunst.
Factory Records bildete die Speerspitze dieser neuen Bewegung.
Tony Wilson und Martin Hannett (als Macher und Produzent von Factory)
manifestieren diesen Gedanken schon in ihrer Katalogisierung. Während sonst
nur Alben mit Nummern versehen wurden, wurde hier alles Teil eines Outputs:
Design, Schrifttypus, Fotos und später auch ein Club (die legendäre
Hacienda) trugen zur Ästhetik von Factory bei.
Erkennbar ist das auch bei ACR und ihrem Debüt (das eine Kassette war) „The
Graveyard and the Ballroom“ von 1980. Die Musik ignoriert Genregrenzen,
pfeift auf den institutionalisierten Punkgestus und blickt auf das große
Ganze. Der Titel „The Graveyard and the Ballroom“ darf wörtlich genommen
werden: Neben (Post-)Punk findet man vor allen Dingen den jungen, frischen
Funk und seine Tanzgesten (den Ballroom), aber auch die dunkle, nach innen
gerichtete Wut, die man von den Labelkollegen Joy Division, aber auch von
den Industrial-Experimentierern Throbbing Gristle kannte (der Graveyard).
Apathie und Enthusiasmus spiegeln sich im Gesang, im Drumming und vor allen
Dingen im kühlen Bass-Sound wider. Die Basslines, die dem Funk entlehnt
waren, ließen Kids tanzen.
Dieser Eindruck manifestierte sich dann auf „To Each …“, dem zweiten,
erstmals 1981 veröffentlichten Album. Hier zeigten sich ACR erneut
widerspenstig gegen jede Einordnung; dabei ist der Sound alles andere als
beliebig: Der Bass wurde noch prägnanter, der Sound unterkühlter und
zerfahrener, Einflüsse von tribalistischen afroamerikanischen Genres (man
schaute nicht nur beständig über den Atlantik, man nahm das Album auch in
New Jersey auf) sind auszumachen und münden im fast schon
selbstzerstörerischen Closer „Winter Hill“. Drones, die erst ein Jahrzehnt
später wirklich im Popkosmos Fuß fassen sollten, kommen hier zum Tragen;
außerdem trommelt es unentwegt – und das über zwölf Minuten.
Während New Order als Zugpferd von Factory Weltruhm erlangten, hinkten A
Certain Ratio ihren eigenen Erwartungen hinterher, obwohl sie 1982 mit
„Sextet“ ihr künstlerisch gewagtestes Album veröffentlichten. Der große
Erfolg blieb aus, 1986 erschien mit „Force“ ein Meisterwerk des Scheiterns
am eigenen Willen zum Pop. Verdrehter Jazz-Funk ist hier die Ausgangslage
für Songs wie „Bootsy“ und dem New-Romantic-Song „And Then She Smiles“.
Manchester, Factory Records und A Certain Ratio ereilte dasselbe Schicksal;
nicht alles geschah zeitgleich, aber doch kriselte es aus den gleichen
strukturellen Problemen, die ihren heutigen Appeal ausmachen. Das
verschwenderische Label, die spätviktorianische Stadt und die „zu schlaue“
Band verschwanden von den Landkarten beziehungsweise verglühten im eigenen
Mythos. Manchester selbst konnte sich auf Grund des riesigen Potenzials,
das in der nordenglischen Großstadt schlummerte, immer wieder zurückmelden:
mal größer (Oasis), mal kleiner (Kasabian). Factory Records ging am eigenen
Anspruch zugrunde und wurde 1992 liquidiert. A Certain Ratio
veröffentlichten im gleichen Jahr ihr letztes Album, auch wenn es 1997 und
2008 zu zwei Reunions kam. Und dennoch: Die Kreuzung aus Funk und New Wave
hat niemand so radikal hinbekommen wie A Certain Ratio auf ihren
Frühwerken.
A Certain Ratio: „The Graveyard and the Ballroom“, „To Each …“, „Fo…
(PIAS/Cooperative Music/Mute)
5 Jan 2018
## AUTOREN
Lars Fleischmann
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