# taz.de -- nord.thema: Genügsame Blutsauger | |
> AUSSAUGEN Blutegel-Therapie hilft unter anderem bei Gelenkerkrankungen | |
> und Sportverletzungen. Über 200 Wirkstoffe im Speichel der Weichtiere | |
> tragen zur Heilung bei | |
Bild: Dürfen nach getaner Arbeit in den „Rentnerteich“, wenn sie Glück ha… | |
von Milena Pieper | |
Eine leichte Schleimspur zieht sich die Glaswand entlang, während der | |
Blutegel langsam nach oben kriecht. Das große Einmachglas mit dem | |
durchlöcherten Deckel ist mit Wasser gefüllt. Vier weitere Egel haben sich | |
mit ihren Saugnäpfen an das Glas gesaugt. Noch sind sie relativ dünn und | |
klein, zwischen drei und fünf Zentimeter lang. „Die werden bei der | |
Behandlung deutlich größer“, sagt Dörte Schönfeld. „Jetzt sind sie | |
ausgehungert, die haben seit mindestens drei Monaten nichts gefressen.“ Die | |
Heilpraktikerin arbeitet seit acht Jahren mit den Blutsaugern. „Das ist bei | |
vielen Sachen eine super Option“, sagt sie. „Ich liebe das.“ | |
Besonders bei Erkrankungen wie Arthrose, Arthritis, Gicht oder bei | |
Blutergüssen und Sportverletzungen setzt sie die Tiere ein. Angefangen hat | |
Schönfeld mit Akupunktur. „Ich kam bei einer Arthrose nicht weiter und da | |
dachte ich, ich kann das mal ausprobieren“, sagt Schönfeld, deren Mutter | |
als Heilpraktikerin ebenfalls mit den Blutsaugern arbeitete. Bei einer | |
Fortbildung lernte Schönfeld, die Egel gezielt einzusetzen. | |
Die medizinische Verwendung von Blutegeln hat eine lange Tradition. Schon | |
die Ägypter der Pharaonenzeit kannten ihre heilende Wirkung. Heute werden | |
die Egel auch in der modernen Medizin wieder mehr eingesetzt. | |
Andreas Michalsen, der an der Berliner Charité-Universitätsmedizin forscht, | |
setzt sich in seinen Publikationen mit der Blutegel-Therapie auseinander. | |
Er hat mit seinem Team bereits vier Studien zur Kniearthrose sowie eine zur | |
Daumenarthrose durchgeführt. Die heilende Wirkung der Behandlung habe sich | |
dabei immer wieder bestätigt. „Die Beschwerdelinderung lag ungefähr bei 50 | |
bis 65 Prozent“, sagt Michalsen. | |
Der Effekt der Therapie halte bei den meisten Patienten drei bis sechs | |
Monate an. Grund für die Verbesserung sei wahrscheinlich die Wirkung des | |
Egel-Speichels. „Man hat inzwischen schon über 200 Inhaltsstoffe | |
identifiziert. Die meisten dieser Substanzen sind entzündungshemmend und | |
schmerzlindernd“, erklärt Michalsen. | |
Schönfeld setzt je nach Körperstelle meist zwei bis sechs Blutegel ein, die | |
sich ansaugen und die Haut aufritzen. „Man merkt ein Beißen“, sagt eine | |
Patientin. Sie hat die Therapie schon einmal gemacht, doch so richtig | |
gewöhne man sich nicht daran, sagt sie. | |
Die meisten Patienten finden die kleinen Blutsauger zuerst etwas eklig. | |
„Ich hatte mal einen Mann, der gar nicht hingucken wollte. Der hat die | |
ganze Zeit Zeitung gelesen“, sagt Schönfeld. Und eine Frau, die schon zwei | |
oder drei Mal bei ihr war, bringt immer ein Handtuch mit, das sie um ihr | |
Bein bindet. „Damit die Egel auf keinen Fall hoch kriechen“, sagt | |
Schönfeld. Das könne aber sowieso nicht passieren, denn wenn die Tiere sich | |
erst einmal festgesaugt haben, bleiben sie an derselben Stelle sitzen, bis | |
sie voller Blut sind und dann abfallen. | |
Der anfängliche Ekel verfliege aber meist schnell. „Fast jeder guckt dann | |
hin und findet das spannend.“ Eine ältere Dame habe den Tieren Namen | |
gegeben und wollte sie sogar am liebsten mitnehmen, sagt Schönfeld. Sie | |
weiß selbst, wie sich die Egel auf der Haut anfühlen. „Ich bin so der Typ, | |
der alles ausprobieren muss, bevor er es seinen Patienten zumutet“, sagt | |
sie. Beim ersten Mal, im Nacken, habe sie gar nichts gespürt. „Aber als ich | |
sie dann mal am Daumen angesetzt habe, da wusste ich, was die Leute | |
meinen!“ | |
Schönfeld ist gerade dabei, die Egel mit einem kleinen Gläschen am Knie der | |
Patientin zu platzieren. Fünf sollen es werden. Während der Behandlung, die | |
meist zwei bis drei Stunden dauert, ist die Heilpraktikerin die ganze Zeit | |
dabei. Zur Sicherheit hat sie mehrere Egel bestellt, denn manchmal haben | |
die Blutsauger auch keine Lust. Dann muss Schönfeld einen anderen Egel | |
nehmen. „Die Blutegel sind sehr sensibel“, sagt sie. „Im Winter dauert’s | |
länger als im Sommer, und bei Gewitter oder wenn sie sich häuten, beißen | |
sie nicht.“ Die Patienten müssen ihre Haut vorher mit warmem Wasser | |
abspülen. Auch Rauchen oder viel Knoblauch essen können sie vorher nicht, | |
denn das werde alles über die Haut wieder abgegeben. „Die Egel brauchen | |
Haut und Schweiß pur“, sagt Schönfeld. | |
Am liebsten behandelt die Heilpraktikerin Knie oder Füße. „Da bekomme ich | |
in 90 bis 95 Prozent der Fälle eine positive Rückmeldung. Es ist auf jeden | |
Fall einen Versuch wert, bevor sich die Patienten unters Messer legen.“ Vor | |
der Behandlung müssen sich die Patienten ausführlich informieren. „Das ist | |
eben nicht alltäglich“, sagt Schönfeld und zeigt Fotos, auf denen ein Fuß | |
und ganz viel Blut zu sehen sind. Der Wirkstoff Calin hält die kleine | |
Bisswunde mehrere Stunden offen und sie blutet nach. | |
Deshalb sei es natürlich besonders wichtig, sauber zu arbeiten. „Das ist | |
eine Riesensauerei, das erzähle ich zwanzig Mal während der Behandlung, | |
aber es zu erleben, ist dann was anderes.“ Wie die Patienten auf die | |
Behandlung reagieren, sei natürlich unterschiedlich, sagt Schönfeld. | |
Anfangs können sich blaue Flecken bilden und die Wunde verkrustet. Damit | |
sich Blut nachbilden kann, müsse nach einer Behandlung immer eine Pause von | |
mindestens drei Monaten folgen. | |
Die Blutegel bestellt Dörte Schönfeld bei der Biebertaler Blutegelzucht in | |
Hessen. Nach der Behandlung werden die Egel normalerweise getötet. Doch | |
seit ein bis zwei Jahren gibt es eine andere Möglichkeit. „Das ist allein | |
für’s Karmasammeln ganz nett. Man kann die Egel zurück zur Zucht schicken | |
und dann kommen sie dort in einen Rentnerteich.“ | |
25 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Milena Pieper | |
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