# taz.de -- Da ist der Regenwurm drin | |
> Bühne Armin Petras inszeniert Eugene O’Neills klassischen US-Stoff, | |
> „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, in Stuttgart ganz ohne | |
> Gegenwartsbezug | |
Ist das noch klassisch oder schon fossil? Das ist eine Frage, die sich | |
während Armin Petras’knapp dreistündiger Inszenierung von „Eines langen | |
Tages Reise in die Nacht“ des amerikanischen Dramatikers Eugene O’Neill im | |
Schauspiel Stuttgart aufdrängt. Das stark autobiografisch beeinflusste | |
Stück beschreibt einen Tag im Leben der Tyrones und zeichnet den Zerfall | |
der vierköpfigen Familie in den USA der frühen 1920er Jahre nach. Diese | |
Zeit hat Armin Petras wie einen hermetisch abgeschlossenen historischen | |
Kosmos auf die Bühne gebracht. Da findet sich eine großzügige Holzveranda | |
mit dem obligatorischen Schaukelstuhl, ein dunkelholziger, barock | |
geschwungener Treppenaufgang, Peter Kurth im pastelligen | |
Zwanziger-Jahre-Kleid als Hausherrin Mary und Edgar Selge als James Tyrone | |
im Tweedanzug. | |
Dass die weibliche Hauptrolle männlich besetzt ist, ist einer der seltenen | |
überraschenden Momente. Man wird den Eindruck nicht los, dass der Abend | |
eine etwas konservative Hommage an erstklassige, aber selten überraschende | |
Schauspielkunst ist. Peter Kurth als Mary Tyrone wirkt wie eine Festung auf | |
der Bühne. Die Mauern dieser Festung scheinen unüberwindbar, wie auch der | |
tödlich erkrankte Sohn Edmund feststellt. Manolo Bertling hustet sich in | |
dieser Rolle mit fahl glänzendem Oberkörper in regenwurmiger | |
Schutzlosigkeit von Szene zu Szene, als erschiene ihm der Tod als | |
Hauptgewinn gegenüber dieser Familie. Sein Bruder Jamie, gespielt von Peter | |
René Lüdicke, wappnet sich mit Klamauk und Provokation gegen die | |
Schuldzuweisungen des enttäuschten Vaters und trinkt, als sei es ihm das | |
Sterben wert, wenn jede Erinnerung mitstirbt. Der Pegel aller | |
Familienmitglieder steigt, die Spannung nicht, und in trunkenen | |
Anschuldigungen offenbart sich der Geiz des Hausherren James (Edgar Selge) | |
als Wurzel allen Elends. | |
## Eine Prise Slapstick | |
Dass dieser Geizhals nicht zum eindimensionalen Bösewicht verkommt, sondern | |
eine zwischen Schuld und Gier zerrissene Figur bleiben darf, ist Edgar | |
Selge in dieser Rolle zu verdanken. Warum allerdings Julischka Eichel in | |
einer fragwürdigen Interpretation der Rolle des irischen Dienstmädchens für | |
die fehlende Prise Slapstick der Vorstellung herhalten muss, bleibt ein | |
Rätsel. | |
So facettenreich die Leistung der SchauspielerInnen sein mag, sie täuscht | |
nicht darüber hinweg, dass noch mehr an diesem Stück fragwürdig wirkt. „Die | |
Reise eines langen Tages in die Nacht“ nur auf ein autobiografisches | |
Familiendrama zu reduzieren ist möglich, vernachlässigt aber, dass das | |
Stück nicht nur den Niedergang einer Familie, sondern einer ganzen | |
Gesellschaft skizziert.1912 ist nicht nur das Jahr, in dem die „Titanic“ | |
kentert, sondern auch eine Zeit weltweiter politischer Unruhen. | |
Die Rückwand der Drehbühne zeigt einen Schiffsbug, zu dessen Füßen James | |
Tyrone über seine bittere Vergangenheit als Kind bettelarmer irischer | |
Einwanderer monologisiert. Die Schiffswand verweist aber auch, ebenso wie | |
eine ins Dunkel des Zuschauerraums geworfene Fackel der Freiheitsstatue, | |
auf die Versprechungen des „American Dream“, der den ärmsten Tellerwäscher | |
zum Millionär macht, solange er sich an die Prinzipien des Kapitalismus | |
hält. Das Verhalten des gierigen Familienvaters, der Geld an guten Ärzten | |
spart und so seine Frau in die Opiumsucht und den Sohn in den Tod treibt, | |
ließe sich wie eine frühe Kritik an diesen Prinzipien lesen. Prinzipien, | |
die sich inzwischen lange über die Grenzen der USA ausgebreitet haben. | |
„Die Vergangenheit ist die Gegenwart und die Zukunft“, flötet berauscht | |
Peter Kurth. Man nickt zustimmend und fragt sich wieder, warum der Bezug zu | |
einer Gegenwart, in der die ganze Welt die gesellschaftlichen und | |
politischen Entwicklungen der USA verfolgt, durch eine geschichtliche Blase | |
ersetzt wurde. Judith Engel | |
21 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Judith Engel | |
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