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# taz.de -- Der Code der vielarmigen Göttin Kali
> Interkulturelles Projekt Backofenhitze, Beschleunigung, Zeichentransfer:
> Beobachtungen zum Alltag des internationalen Kulturaustauschs während der
> Künstler-Residency des Goethe-Instituts Mitte April in Bangalore
Bild: Straßenszene mit Künstlerresidenz in Bangalore
von Ingo Arend
Der Schlüssel passt nicht. Schrecksekunde kurz vor Mitternacht. Einen
Moment schaut Saskia Groneberg verzweifelt: „Sind wir etwa im falschen
Haus?“ Wir stehen in einer schummrig beleuchteten Sackgasse im Bangalorer
Stadtteil Richmond Town: dschungelhafte Vegetation ringsherum, gefühlte
Temperatur: 40 Grad. Die Wohnungstür klemmt. Saskias „Host“ ist nicht da.
Die Aussicht, ihr Stipendium auf der Straße antreten zu müssen, begeistert
die Münchener Künstlerin nicht wirklich. Schließlich, der Taxi-Fahrer zieht
kräftig, klappt es. Türöffner – der erleichternde Moment beschreibt ganz
gut, was das Residency-Programm des Goethe-Instituts in Indiens
drittgrößter Stadt ausmacht. Denn das Apartment, in dem die 31-Jährige die
nächsten zwei Monate wohnen wird, gehört Naresh Narasimhan.
Der bekannte Architekt ist einer der wichtigsten Stadtplaner in Bangalore.
Und wenn jemand etwas über Lalbagh, den Botanischen Garten der Stadt, weiß,
der Groneberg hierhergelockt hat, dann der leidenschaftliche Cineast und
Kunstfreund, der das VW-Werk in Pune geplant hat und eine riesige Sammlung
von Stadtplänen besitzt.
Zwei Mal zwölf Künstler lädt das Goethe-Institut jedes Jahr in die
Hauptstadt des südindischen Bundesstaats Karnataka ein. Und das
„Host-Prinzip“ garantiert, dass sie nicht, wie bei so vielen Residenzen, im
Elfenbeinturm bleiben, sondern unter die Leute, in die Szene kommen.
## Ein Netz aus 25 Hosts
„Wir machen hier keine Schlüsselresidenzen, wo die Leute einen
Apartmentschlüssel in die Hand gedrückt bekommen und ein paar Monate später
hauen sie ab, ohne dass jemand etwas von ihnen mitbekommen hat“, sagt
Institutschef Christoph Bertrams, der das Programm 2011 entwickelt hat. Der
agile 60-Jährige, der in Kuba das Goethe-Institut und in Berlin das
Goethe-Forum leitete, hat ein Netz von 25 „Hosts“ gewoben. Vom
Stadtforscher bis zur Tänzerin hat er für jeden „Resident“ einen
Ansprechpartner parat. Saskia wird also keine Zeit mit Networking
verschwenden müssen.
Mit Nareshs Hilfe kann sie direkt damit loslegen, den Mythos von Bangalore
als „Gartenstadt“ kritisch zu durchleuchten. „Auffällig viele Musliminnen
hier“, bemerkt sie beim ersten Spaziergang in dem leicht verwahrlosten
Lalbagh-Park, den Sultan Haider Ali 1760 in der Stadt anlegen ließ. Am
Abend erklärt ihr Suresk Jayaram, dass sich die Frauen der
Religionsgemeinschaft, zu der sich gerade mal 14 Prozent der Bangalorer
zählen, dort „sicher fühlen“. Der Künstler und Kurator hat das Visual Art
Collectiv der Stadt mitbegründet.
Zur Begrüßung der neuen Stipendiaten hat er im verwinkelten Atelierhaus an
der Shanti-Road ein kleines Buffet aufgebaut. Stolz verweist er darauf,
dass in dieser „cosmopolitan community“ Künstler aus Indien gemeinsam mit
solchen aus dem tödlich verfeindeten Pakistan ausstellen.
Bangalore, gut 1.700 Kilometer südlich von Delhi auf dem Dekkan-Plateau
gelegen, ist vielleicht nicht der Hotspot der Goethe-Künstlerresidenzen.
Aus Künstlersicht hat die Stadt aber Vorteile. Hier muss sich niemand an
einem Mythos abarbeiten, wie in Mumbai oder Kolkata. In den letzten 15
Jahren ist die einstige Provinzstadt zu einer Megalopole angeschwollen, in
der alle Widersprüche von Industrialisierung und Globalisierung
zusammenschießen. Ihr Wucherwachstum verdankt das „Silicon Valley Indiens“
der Raumfahrt-, der Computertechnologie und dem IT-Boom. Jetzt hat
Bangalore die höchste Motorraddichte und die höchste Suizidrate in
Indien. Erst seit fünf Jahren existiert eine kleine Metro.
Dieser unwirtliche Moloch aus Müll, Armut und maroder Infrastruktur ist
freilich das ideale Feld für Kreative jeden Genres: „Hier gibt es keine
positive Mobilität“, befindet Bettina Lockemann, als wir uns mühsam den Weg
entlang der 100-Feet-Road bahnen. Bettler, Straßenhändler und Kühe
versperren den Bürgersteig, Greisinnen in grellbunten Saris türmen mit
bloßen Händen stinkenden Müll an die Bäume, jeden Moment streift den
Fußgänger eine der blechernen, gelb-grünen Rikschas, ohne die hier niemand
durch das Verkehrschaos kommt.
Ein Hupinferno liegt vom frühen Morgen bis weit nach Mitternacht über der
smoggeschwängerten Metropole. Schon Mitte April klettern die Temperaturen
auf knapp 40 Grad. „Hier ist alle Mobilität schmerzhaft“, sagt die
Künstlerin und Sozialwissenschaftlerin aus Köln, die sich auf
Stadtrecherche in Nahost spezialisiert hat.
„Irgendetwas mit Video wird es wohl werden“, erahnt sie ihr Projekt, als
wir bei einem Obsthändler eine aufgeschlagene Kokosnuss ausschaben. Aber
das wird sie noch mit ihren neuen Kollegen im IIHS, dem Indian Institute
for Human Settlement, diskutieren – Lockemanns Host.
Tobias Daemgen vom Wuppertaler Kollektiv „RaumZeitPiraten“ ist noch ganz
benommen vom Ortswechsel, der Geschwindigkeit und der Intensität der Stadt.
Fasziniert betrachtet er, wie unkontrolliert sich die Natur in der Stadt
Bahn bricht, Bäume und Sträucher durch jedes freie Mauerloch wuchern. Die
kritischen Urbanisten des Architekten- und Design-Start-ups Jaaga sind
seine Mentoren. Ob die Bangalorer wirklich etwas mit den
Lichtinstallationen anfangen können, die er unter den auf rohen Betonstelen
über die Stadt gezogenen „Flyovers“, autobahnähnlichen Zubringern,
platzieren will? „Ich bin mal gespannt, wie die hier mit öffentlichem Raum
umgehen“, beschreibt er sein Experiment.
Wie genau ihre „performative Installation“ aussehen wird, mit der sie eine
ihrer Inszenierungen indisch adaptieren wollen, wissen Robin Detje und
Elisa Duca vom Berliner Theaterduo „bösediva“ dagegen noch nicht. Aber für
die Verwandlung von Holz zu Fleisch und Zucker zu Glück dürften sie im
Indien des wesenden Mülls und der Reinkarnationslehren vermutlich
Referenzen finden.
„Wenn man den Code der Göttin Kali dafür entschlüsseln könnte, ohne es mit
westlichem Blick auszubeuten, könnte es spannend werden“, umschreibt das
Duo beim abendlichen Gespräch auf dem Balkon des Atelierhauses das Warten
auf den Knackpunkt vermutlich jeder Residency – den Moment einer
wechselseitigen Befruchtung der Kulturen.
## Glückssymbol Hakenkreuz
Die vielarmige Göttin symbolisiert Erneuerung und Zerstörung. Auf dem
Trümmergrundstück nebenan spielen Kinder um einen brennenden
Scheiterhaufen, auf dem Abfall verbrannt wird.
Die Idee, den Zeichentransfer zwischen den Kulturen versuchsweise auf die
Spitze zu treiben und das Goethe-Institut mit Hakenkreuzen zu überziehen,
verwerfen wir lachend wieder. Den Kontextwechsel würde das Swastika-Symbol
vermutlich nicht als der Glücksbringer überstehen, als den wir es beim
Spaziergang in der Stadt auf Haustüren und Fußmatten finden.
Trotz des spirituellen Interesses – späte Hippies sind nicht nach Bangalore
gepilgert. Wenn die Dresdner Künstlerin Anja Kempe verrät, dass sie hier
gern „wegkommen will von meiner Rationalität“, klingt das eher wie ein
abstraktes Echo der 70er Jahre. Und der Berliner Medienkünstler Wolfgang
Spahn ist überhaupt nur nach Bangalore gekommen, weil die Computer-Nerds
hier genau die analogen Computer nachbauen können, mit denen er seine
fraktalen Klangkompositionen programmiert.
3.500 Sprachschüler schleust das Bangalorer Goethe-Institut jedes Jahr
durch seine Deutschkurse. Doch seine „bangaloREsidency“ promotet weder
deutsche Kultur im Ausland noch verschafft sie zivilisationsmüden
Westkreativen eine ästhetische Frischzellenkur. Das Programm ist kein
Statussymbol wie ein Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom, es bedeutet
weder Geld noch Prestige. Es demonstriert den unspektakulären, aber
spannenden Alltag der Suche nach Interkulturalität – jenseits der
Sonntagsreden von Außenministern und Kulturattachés. Die Intensität, die
Geschwindigkeit, den Zeichentsunami dabei muss man aushalten können.
Saskia kennt das Indien-Gefühl noch aus der Zeit, als sie als Teenager mit
ihren Eltern hier war. „Irgendwann will man nur noch weg“, erinnert sie
sich während einer knatternden Rikscha-Fahrt in sengender Hitze, „und wenn
man dann weg ist, vermisst man es.“
22 Apr 2016
## AUTOREN
Ingo Arend
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