# taz.de -- Das Idealbild der Renaissance | |
> KUNST Er war Propagandist der Medici-Herrschaft und „Vater der | |
> Kunstgeschichte“: Die 45-bändige Neuausgabe von Giorgio Vasaris | |
> Lebensbeschreibungen berühmter Maler, Bildhauer und Architekten im | |
> Wagenbach-Verlag ist abgeschlossen | |
Bild: Das Bild zeigt Filippo Brunelleschi. Es handelt sich um ein Epitaph in de… | |
von Ronald Berg | |
Die Geschichte dieses verlegerischen Projekts trägt Züge eines Märchens. In | |
solchen Geschichten werden bekanntlich Wünsche wahr. Nach rund einem halben | |
Jahrhundert des Wünschens und Hoffens liegen jetzt Giorgio Vasaris | |
„Lebensbeschreibungen der berühmten Maler, Bildhauer und Architekten“ neu | |
übersetzt und ungefähr in der Gestalt vor, wie Klaus Wagenbach sich das | |
einmal vorgestellt hatte, als er in den fünfziger Jahren als junger | |
Kunstgeschichtsstudent mit dem Fahrrad durch Italien zog, auf den Spuren | |
jener großen Renaissance-Genies, die vielen immer noch als Höhepunkt der | |
Kunstgeschichte gelten. | |
Daran nicht unschuldig ist ebendieser Giorgio Vasari (1511– 1574), Maler | |
und Architekt, geboren in Arezzo. Anhand von Lebensbeschreibungen der | |
berühmtesten Künstler schuf er ein Modell für die Kunstbetrachtung, das ihn | |
zum „Vater der Kunstgeschichte“ machen sollte. Denn er schrieb nicht nur | |
über die Epoche, die zu seinen Lebzeiten noch Gegenwart war. | |
Einflussreich wurde Vasari mit seinen „Le Vite de’ più eccellenti pittori | |
scultori ed architettori“ einmal wegen der Fülle der über 160 | |
Künstlerviten, die er ausbreitet. Das macht ihn zur ersten Quelle über die | |
Kunst der italienischen Renaissance. Zum anderen fiel seine Behauptung, | |
dass im Quattro‑ und Cinquecento Florenz zum Gipfel der Kunst aufgestiegen | |
sei, auf fruchtbaren Boden. Insbesondere das bildungsbürgerliche 19. | |
Jahrhundert hat Vasaris Geschichtsmodell aufgegriffen und Florenz zum | |
Idealbild einer zu sich selbst gekommenen Menschheitsentwicklung gemacht, | |
die in Universalgenies à la Michelangelo oder Leonardo kulminiere. | |
Nun liegen Vasaris „Vite“ also erstmals vollständig übersetzt, eingeleitet | |
und kommentiert in deutscher Sprache vor. Das heißt, etwa 20 Prozent werden | |
als E-Book noch bis 2019 folgen. Gedruckt handelt es sich um 45 | |
Taschenbücher. In der Form und in der Anordnung der Texte unterscheiden sie | |
sich völlig von den zu Lebzeiten Vasaris erschienenen Ausgaben von 1550 und | |
1568. | |
## Gelehrte Begleiter für die Reisetasche | |
Dass das ursprünglich zweibändige Werk jetzt in handlicher Portionierung | |
erscheint, hat eben auch damit zu tun, dass man die einzelnen Bände nun | |
leicht auch als Reisebegleiter mitnehmen soll. Deshalb gibt es pro Band ein | |
Verzeichnis zum heutigen Standort der Werke, die bei Vasari beschrieben | |
werden. Dazu kommen farbige Abbildungen, die ursprünglich natürlich | |
fehlten. | |
In puncto Ausstattung waren das die Vorgaben, die Klaus Wagenbach Professor | |
Alessandro Nova machte, auf dessen Seminarprojekt an der Uni in | |
Frankfurt/Main das verlegerische Projekt im Kern zurückgeht. Für Wagenbach | |
tauchte Nova 2003 wie ein „Geschenk des Himmels“ auf, als er nach einem | |
Herausgeber für eine deutsche Übersetzung der 1986 in Italien erschienenen | |
kritischen Ausgabe der „Vite“ suchte. Es wurde dann allerdings bald mehr | |
daraus. | |
Erstmals übersetzt liegt nun auch Vasaris Kunsttheorie vor, die er in | |
seinen jeweiligen Vorreden dargelegt hatte und die in den zwei bisherigen | |
deutschen Ausgaben (1832–1849) und (1904–1927) fehlte. Ebenfalls neu ist | |
ein umfangreicher Apparat. Kommentierende Einleitungen zu jedem Band und | |
umfangreiche Anmerkungen erhellen und erklären vieles von dem, was Vasari | |
erdichtete, wegließ oder schlicht falsch wiedergab. Und das ist eine Menge. | |
Denn Vasari war nicht nur Biograf, er war genauso Kritiker und Moralist, | |
und er war Propagandist der Medici-Herrschaft, in dessen Diensten er stand. | |
## Unterhaltsame Anekdoten, endlose Aufzählungen | |
Vasari bekanntestes eigenes Werk dürfte die Ausmalung der Domkuppel in | |
Florenz sein. Eine Arbeit, die durchaus nicht den Rang eines Michelangelo | |
erreicht. Gleichwohl ist dieser Auftrag wohl Grund dafür, den Erbauer der | |
Kuppel, Filippo Brunelleschi, in den höchsten Tönen zu verklären. Das | |
geschieht allerdings auch in mancherlei Anekdoten, liest sich | |
vergleichsweise unterhaltsam und stellt daher literarisch einen der | |
Höhepunkte der „Vite“ dar. | |
Allerdings gibt es in den „Vite“ des Öfteren auch quälende Passagen mit | |
endlosen Aufzählungen, die bestenfalls Kunsthistoriker interessieren | |
werden. Tatsächlich trägt die neue Wagenbach-Ausgabe der „Vite“ nicht | |
unbedingt den Charakter eines Lesebuchs, sondern wird als | |
wissenschaftliches Quellenwerk behandelt. Als solches konnte das Projekt | |
aus öffentlichen deutschen und italienischen Geldtöpfen gefördert werden. | |
Vasari war ohnehin kein großer Stilist. Goethe bezeichnete seine | |
Schreibweise als „wüstes Wirrwarr“. Die Übersetzung hat trotzdem versucht, | |
den Duktus des oft altertümlich-umständlichen Ausdrucks beizubehalten. | |
Außerdem hat sie über 50 Termini technici identifiziert, die teils | |
unübersetzt bleiben (etwa disegno) oder ausdrücklich als Begrifflichkeit | |
einer implizierten Theorie identifiziert wurden. | |
Diese Theorie und Vasaris Geschichtsmodell sind heute allerdings überholt. | |
Auch Vasaris Wertungen sind willkürlich und subjektiv. Ein | |
aufschlussreiches Beispiel findet sich im Wagenbach-Band mit der Paarung | |
von Brunelleschi und Leon Battista Alberti. Brunelleschis riesige, ohne | |
Lehrgerüst am Boden errichtete Domkuppel in Florenz war zweifellos ein | |
Geniestreich, den kein anderer der damaligen Zeit zustande brachte. Vasari | |
widmet ihm aber sechsmal mehr Text als Alberti, dem großen Theoretiker der | |
Renaissance und Schöpfer des Palazzo Rucellai, der wegen der | |
antikisierenden Fassade von großer Bedeutung ist. | |
## Ein Aufsteiger aus der Provinz | |
Vasari bekrittelt an Alberti dessen fehlende Praxis: Er begnüge sich mit | |
dem Entwurf und überlasse anderen die Ausführung. Hier zeigt sich das | |
Ressentiment, das der Emporkömmling aus der Provinz, der Vasari war, | |
gegenüber den Abkömmling einer Florentiner Patrizierfamilie, dessen so | |
wichtige Traktate wie das über die Architektur („De re aedificatoria“, | |
1485) er nicht einmal lesen konnte, weil er nicht über Lateinkenntnisse | |
verfügte. Für die Wiederentdeckung der Antike war Alberti aber eine | |
Schlüsselfigur. | |
Man wird also sagen müssen, das die neue Wagenbach-Ausgabe der „Vite“ vor | |
allem aus wissenschaftlicher Perspektive eine verdienstvolle Sache ist, in | |
literarischer und auch in praktischen Hinsicht ist die Neuausgabe aber | |
durchaus ambivalent: Statt eines Taschenbuchs für die Reisetasche würde man | |
heute locker den gesamten Vasari auf seinem E-Book-Reader überall mitnehmen | |
können – inklusive Bildern und Kommentaren. Insofern ist die 11-jährige | |
Arbeit an der Edition zumindest in technischer Hinsicht vielleicht schon | |
wieder veraltet. | |
45 Bände plus ein Supplementband (8.800 S., 1.750 Abb.), 660 Euro, | |
Subskriptionspreis bis 31. 12. 2015: 598 Euro | |
Die Bände sind auch einzeln zu erwerben. www.wagenbach.de | |
8 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Ronald Berg | |
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