# taz.de -- Hier tobt die Urgewalt | |
> FIGURENTHEATER Seltsame Größen-verhältnisse, zärtliche Kumpanei, | |
> Hyperrealismus: Das Verhältnis zwischen Mensch und Objekt und des | |
> Menschen zu sich selbst wird vielfach untersucht auf dem Internationalen | |
> Figurentheater-festival in München | |
Bild: „Faza REM Phase“ von der polnischen Grupo Coincidentia und Wilde & Vo… | |
von Sabine Leucht | |
Da steht sie, die tapfere Signora Morlupi, „in der Brandung ihrer Gefühle“. | |
Gerade hat sie fünf Handpuppen ausgekotzt und ist nun wilder denn je | |
entschlossen, „richtiges Theater“ zu machen. Theater in groß, mit „echte… | |
Menschen. Auch wenn sie längst alleine ist und im Zuschauerraum nur noch | |
der Tod sitzt. | |
Das Publikum, das sich zum Gastspiel von „Corazón – Corazón“ beim | |
Internationalen Münchner Figurentheaterfestival eingefunden hat, kann an | |
dieser Stelle herzhaft lachen. Man weiß natürlich um die Vorurteile des | |
Schauspiels dem vermeintlich vom Kunsthandwerk gezeichneten Geschwisterchen | |
gegenüber und zahlt es ihm mit Witz und Tücke heim. Wobei Francesca Bettini | |
und ihr langjähriger Partner Gyula Molnàr alles andere als Polarisierer | |
sind. Das italienisch-ungarische Objekttheater-Paar wirbelt nur gutgelaunt | |
die Elemente eines Theaters durcheinander, in dem die Schauspielerin ihre | |
Keule – das klassische Kasperltheaterutensil – wie eine Prothese mit sich | |
herumträgt, der letzte Zuschauer einen Feuerlöscher spielt und sich die | |
vermeintlich abhängigen Puppen als erstaunlich frech und frei erweisen. | |
Seit kaum noch ein Puppenspieler ganz hinter seinen Figuren in Deckung geht | |
und eine wie Susanne Kennedy, die ihre Akteure zur (sprechenden) sozialen | |
Plastik erstarren lässt, zum Regiestar wurde, wirkt die Unterscheidung | |
zwischen Schauspiel und Figurentheater zunehmend konstruiert. Wobei es die | |
Sparte „Schauspielertheater“ aus gutem Grund nicht gibt. Denn wo zwischen | |
Sprech-, Musik-, Tanz- und Figurentheater käme man heute ohne den | |
Schauspieler aus? Und in welchem dieser Bereiche würde man den künstlichen | |
Geschöpfen etwa einer Suse Wächter per se die Tür weisen? | |
## Erzählräume bauen | |
Im Programm des am Freitag ebenfalls in München startenden | |
Performance-Festivals „Spielart“, das seit zwanzig Jahren Sparten-, Genre- | |
und Ländergrenzen gezielt überschreitet, ist mit Jan Lauwers’Needcompany | |
wieder eine Gruppe vertreten, die – wie etliche „Spielart“-Gäste der | |
Vergangenheit – atmosphärische Tableaus statt stringenter Erzählräume bauen | |
uns bereits beim Figurentheaterfestival in Nürnberg, Erlangen und Fürth zu | |
Gast waren: Darunter die Raumkünstler Philippe Quesne und Gisèle Vienne, | |
aber auch die Kompanie Peeping Tom oder Mette Ingvartsen, die man sonst | |
eher im Tanz-Umfeld verorten würde. | |
In München, beim kleinen Bruder des Nürnberger Festivals, steht das reine | |
Bildertheater noch aus: Erst zum Festivalabschluss am Sonntag kann man | |
versuchen, sich in der Traumlandschaft zu orientieren, die Wilde & Vogel | |
gemeinsam mit Performern der polnischen Grupo Coincidentia in „Faza REM | |
Phase“ errichtet haben. Die Produktion verweigert räumliche wie thematische | |
Orientierungspunkte, spielt mit seltsamen Größenverhältnissen und | |
Beziehungen zwischen den Performern und den wenigen Dingen, mit denen sie | |
umgehen. Einer setzt eine Tiermaske auf, Tee wird verteilt und ein Glas | |
unaufhörlich mit Wasser gefüllt, das durch einen Schlauch wieder aus ihm | |
herausläuft. Dazwischen wird Gitarre gespielt oder a cappella gesungen. | |
Denn unter dem Deckmantel des Traumes ist alles möglich. | |
Dagegen zielt das cinematografische Theater von Meinhardt & Krauss & Feigl | |
mit „Und plötzlich stand die Sonne still“ genau ins Zentrum des | |
Festivalthemas „Große kleine Welt“. In dem „kosmischen Lichtspiel“, da… | |
Freitag im Stadtmuseum zu sehen ist, bewegt sich Iris Meinhardt allein im | |
dunklen Raum, stellt Fragen zum Universum und beantwortet sie selbst. Licht | |
setzt Teile ihres Körpers in Szene, dann ist er nur noch ahnbar inmitten | |
der konzentrischen Kreise oder flimmernden Punkte, die er wie das Gegenteil | |
eines Schattens wirft. In diesem ersten Teil der Auseinandersetzung mit den | |
großen Kränkungen der Menschheit ist ein interaktives Video-Tracking-System | |
der Hauptakteur. Womit die Antwort auf die erste Kränkung – die Erkenntnis, | |
dass die Erde sich nicht im Zentrum des Universums befindet – ästhetisch | |
bereits die letzte vorwegnimmt: Es wird die Kränkung der Menschheit durch | |
die Technik sein. | |
Bis zur Halbzeit am Montag aber waren eher Mischformen zwischen Schau- und | |
Figurenspiel auf dem Festival zu sehen, und zwar besonders schöne für | |
Kinder. Wenn etwa Ulrike Monecke vom Berliner Theater Ozelot die | |
Geschichte der „Mutigen Prinzessin Glückslos“ erzählt, sind Dinge wie der | |
goldene Zauberfaden, mit dem die Wahrsagerin der vom Pech verfolgten | |
Königsfamilie ihren Weg weist, zwar nette Details. Vor allem aber tobt eine | |
Urgewalt in Gestalt von Monecke selbst über die Bühne. Ob sie sich eine | |
Lage ihrer langen Röcke als Kapuze überwirft oder als personifiziertes | |
Unglück rasch in mit zerknautschten Pet-Flaschen unterlegte Pantoffeln | |
schlüpft: Wie sie das macht und dabei nie den Erzählfaden aus der Hand | |
gibt, ist toll. | |
## Ein respektloser Elch brüllt | |
Im Schauspiel geerdet ist auch „Nils Holgersson“ des Figurentheaters „Die | |
Exen“ aus Passau, worin zwei Frauen mit tantigem Habitus und | |
Uralt-Tageslichtprojektor einen „Märchenvortrag“ ankündigen, dann aber ein | |
furioses, mehrlagiges und präzise getimtes Schattentheater mit | |
vorgefertigten Bildern intervenieren lassen. Ein respektloser Elch brüllt | |
vor der schwedischen Flagge „Buäh!“, der Schatten des bösen Fuchses wird | |
von einer der „Tanten“ mit dem Schal von der Leinwand „weggefangen“ und… | |
frisch geschlüpften Handschattenküken werden so ausschweifend „süüüüü�… | |
gefunden, dass man sich mit erschreckten Blicken erst wieder einkriegen | |
muss. | |
Das Verhältnis zwischen Mensch und Objekt wie das des Menschen zu sich | |
selbst kann mit Hilfe des Figurentheaters besonders gut untersucht werden. | |
Wenn der Erzähler in „Corazón – Corazón“ von Signora Morlupi betont | |
sachlich behauptet, sie stünde „In der Brandung ihrer Gefühle“ oder | |
verwundert fragt, „hat sie einen Stromschlag oder ist es nur eine von ihren | |
Choreografien?“, spürt man in der Haltung dieser beiden Schauspieler | |
zueinander zugleich den Abstand des Figurenspielers zur Figur. | |
Mit der spielerischen Umkehrung dieses Wissens- und Machtverhältnisses | |
spielt zum Beispiel der große Neville Tranter immer wieder, indem er sich | |
als Lenker seiner Klappmaulpuppen gerne selbst in Dienerrollen steckt (zum | |
Beispiel in „Schicklgruber, alias Adolf Hitler“) und von ihnen | |
drangsalieren lässt. In dem Dürrenmatt-Klassiker „Der Besuch der alten | |
Dame“ zeigt das Puppentheater Halle eine besonders komplexe Synthese | |
zwischen Schau- und Puppenspiel, indem die Rolle der reichen Dame Claire | |
Zachanassian von der Berliner Film- und Theaterschauspielerin Ursula Werner | |
übernommen wird, während die heruntergekommenen Bürger der Kleinstadt ihrer | |
Kindheit hyperrealistische kleinkindgroße Puppen sind, hinter denen die wie | |
im japanischen Bunraku schwarz maskierten Spieler anfangs unsichtbar | |
bleiben. Doch sie treten hervor, reißen sich erst die Masken vom Kopf und | |
emanzipieren sich schließlich ganz von ihren Figuren, in dem Maße, in dem | |
die geschlossene Gesellschaft des Ortes zerfällt und die Gier, die Angst, | |
das Gewissen oder das Verantwortungsgefühl des Einzelnen in den Vordergrund | |
tritt. | |
Das ist symbolisch, aber nie platt. Der Umgang mit der Figur reicht vom | |
detailliert illusionistischen Spiel über das sachliche Drapieren der | |
Figuren bis zur fast zärtlichen Kumpanei – und ist immer auch inhaltlich | |
gedeckt. | |
Kein Wunder, dass Schauspieler wie Werner oder Gruppen wie Nico and the | |
Navigators mit den Hallensern kooperierten oder die südafrikanische | |
Handspring Puppet Company mit dem Münchner Residenztheater. Warum auch die | |
Kunst der anderen verschmähen, wenn man sich doch prima ergänzt? | |
Das Figurentheaterfestival in München geht bis 25. Oktober | |
21 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Sabine Leucht | |
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