Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Musiker Wer ist dieser Teodor Currentzis, der als Wunderknabe unter…
Bild: „Was bedeutet Sicherheit in der Kunst? So wenig wie in der Liebe!“ Te…
von Regine Müller
Perm ist übersät mit Fahnen und Plakaten, die den Sieg über Nazideutschland
vor 70 Jahren feiern. Das heroische Soldatengesicht neben der Friedenstaube
ziert sogar Imbissbuden und die Erfrischungstücher der Aeroflot. In der
östlichsten Millionenstadt Europas gibt es im Straßenbild immerhin eine
Konkurrenz: die Plakate des Diaghilev-Festivals, das den russischen
Ballett-Impresario feiert, der in Perm am Ural geboren wurde.
Seit 2011 leitet Teodor Currentzis das Festival, seit er auch Chef des
Permer Opern- und Balletttheaters ist. Currentzis gilt als der Wunderknabe
unter den Dirigenten der jüngeren Generation. Sein Werdegang ist ganz
buchstäblich abseitig. Der gebürtige Grieche begann sein Studium in Athen,
ging aber dann nach St. Petersburg und studierte dort bei dem legendären
Ilja Musin. Seither ist Russland seine künstlerische Heimat.
Von 2004 bis 2010 war er Chefdirigent in Nowosibirsk, wo sein Wirken
bereits auffiel. Denn dort gründete er sein eigenes Orchester MusicAeterna
und spielte CDs ein, die mit ihrer radikalen Intensität Furore machten.
Currentzis entfesselt etwa bei Mozart eine ganz neue Dramatik und Schärfe,
leuchtet detailversessen in die Tiefe und schert sich nicht um musikalische
Konventionen. Egal was Currentzis und seine Truppe anfassen: Alles klingt
aufregend neu, spannend und sowohl emotional als auch intellektuell
mitreißend. Kein Wunder, dass er neulich sogar im Gespräch war als
Chefdirigent der Berliner Philharmoniker.
Diese Idee findet er lächerlich: „Ich habe die Berliner nie dirigiert, wer
kommt auf so eine Idee?“ Currentzis ist kein Jetsetdirigent, der kurz
einschwebt und mit zwei, drei Proben jedes beliebige Spitzenorchester
dirigiert. Currentzis ist ein Probenfanatiker, ein Detailpuzzler mit
Marathonkondition, die er auch seinen Ensembles abverlangt. Dabei wirkt er
eher weich, nachdenklich, schwärmerisch. Der schlaksige, stets schwarz
gekleidete Exzentriker bittet auf das Sofa in seinem Dienstzimmer, das mit
Seidentapete, goldverzierten Samtvorhängen und Kronleuchter an einen
plüschigen Salon des 19. Jahrhunderts erinnert. Currentzis sinkt auf dem
Sofa entspannt in die Kissen.
Was zieht einen Griechen nach Russland? „Die Länder haben tatsächlich
vieles gemeinsam: Die guten und die schlechten Seiten sind sehr ähnlich.
Was mich an Russland besonders fasziniert, ist die völlig andere Art, sich
der Realität zu nähern. Ich liebe das. Die russische Seele gibt es
wirklich! Wir haben viele Schwierigkeiten hier, aber ich könnte mir meine
Entwicklung in einem anderen Land so nicht vorstellen.“
Vor dem Gespräch hat er die erste Probe für Mahlers Fünfte geleitet. Das
Orchester passt kaum hinein in die Handballhalle, in der geprobt werden
muss, weil das Permer Opernhaus aus allen Nähten platzt. Die abgenutzte
Sportstätte befindet sich in einem Kulturpalast im schönsten
Stalin-Zuckerbäcker-Stil, zehn Minuten mit der rumpelnden Tram vom
Opernhaus entfernt. In der Probenpause kommen Musiker an sein Pult,
diskutieren einzelne Stellen. Er legt den Arm um sie, der enge persönliche
Kontakt ist Currentzis wichtig. Man hört, dass die Proben oft in Festgelage
münden. Arbeit und Leben sind eins in dieser Stadt, von der Currentzis
sagt: „Die Musiker kommen nicht wegen der Stadt. Sie kommen, weil sie hier
so wie nirgendwo sonst Musik machen wollen.“
Currentzis hat sich in Russland ein eigenes Imperium aufgebaut. Sein
MusicAeterna-Orchester nahm er mit nach Perm. Unter der Bedingung, dass das
in Perm ansässige Orchester weiter besteht und beschäftigt wird. Bei
MusicAeterna sitzen Russen einträchtig neben Spitzenmusikern aus Köln und
Paris.
Der Mann fürs Reale am Permer Opernhaus ist Geschäftsführer Marc de Mauny,
ein in Paris geborener Brite im Tweedanzug mit Fliege. Er und Currentzis
kennen sich seit über 15 Jahren aus St. Petersburg, wo de Mauny Gesang
studierte. Auch Ballettchef Alexei Miroschnitschenko kommt von dort:
„Wir sind die St.-Petersburg-Connection“, amüsiert sich de Mauny. Als er
2011 Perm anfing, standen die Zeichen auf Tauwetter: „Der Gouverneur, der
uns hierhin gebracht hat, war ein sehr liberaler Mann. Er hatte die clevere
Strategie, in Kunst und Kultur zu investieren.“
Inzwischen wurde Gouverneur Oleg Tschirkunow abgelöst, die Verschärfung der
politischen Situation in Russland hat auch Perm zu spüren bekommen.
Currentzis, sein Opernhaus und seine Ensembles blieben verschont, bislang.
Die Unsicherheit stört Currentzis nicht, auch seine Musiker müssen mit
Einjahresverträgen leben. „Was bedeutet Sicherheit in der Kunst? So wenig
wie in der Liebe!“
Currrentzis redet viel von Anarchie, dann wieder springt er zu den Mönchen
auf dem Berg Athos und vergleicht deren Gesellschaft mit seiner in Perm, in
der er sich als „Erster unter Gleichen“ begreift: „Ich bin hier, weil ich
ein Exil brauche. Ich brauche diesen Ort, um neue Regeln aufzustellen.“
Die neuen Regeln betreffen auch sein Repertoire, das irritierend groß ist.
Es beginnt bei Rameau und endet noch lange nicht bei Schostakowitsch.
Stilgrenzen haben für ihn keine Gültigkeit, aber seine Basis ist die
historisch informierte Arbeitsweise. Er nimmt sich dabei heraus, das
Ergebnis offenzulassen: „Wenn ich herausfinde, dass ich zu einem Werk
nichts Besonderes zu sagen habe, mache ich das Stück nicht. Was ich
brauche, ist die Inspiration und die Liebe, die plötzlich entsteht, wenn du
eines Morgens aufwachst und genau weißt, was du zu tun hast!“
So spontan wie seine Arbeitsweise ist auch die Planung. In Perm gibt es
keine festgelegten Probenpläne. Meistens wird erst am Vortag entschieden,
was am nächsten Morgen geprobt wird. Undenkbar für ein hiesiges
Tariforchester. Wenn er jetzt im September in Deutschland bei der
Ruhrtriennale mit „Rheingold“ seinen ersten szenischen Wagner aufführen
wird, nimmt er sein Orchester mit. Die Musiker werden in Wohnwagen
übernachten und wie immer sehr, sehr lange proben.
Currrentzis sagt: „Ich nenne es für mich: ‚Rheingold‘, ein Prolog zum En…
der Musik. Es ist mehr als eine Oper, es ist ein Projekt, das einen neuen
Raum des Verstehens zu kreieren versucht. Bislang ist Wagner eine Art
negative Religion. Ich aber möchte Wagner eben nicht als Religion sehen,
sondern als politischen, revolutionären Komponisten und Gestalter der
Gesellschaft.“
Wer sonst wäre besser geeignet, die „negative Religion“ Wagners umzudeuten
zu einem modernen Mythos, als der griechisch-russische Anarchist vom Ural?
22 Aug 2015
## AUTOREN
Regine Müller
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.