# taz.de -- Architektur: Moderne wieder modern | |
> Der Berliner Siedlungsbau der Zwanziger ist eine Erfolgsgeschichte. Jetzt | |
> sollen sechs Siedlungen zum Weltkulturerbe werden. | |
Bild: Wohnen wie im Pferdefuß: Die Neuköllner Hufeisensiedlung. | |
Allmählich darf man in Berlin offenbar wieder etwas von der Moderne halten. | |
Ein Vierteljahrhundert lang - und ausgerechnet während des Baubooms nach | |
der Wende von 1989 - galt die Tradition der Moderne im Berliner | |
Baugeschehen als Tabu. Unter den Stichworten "kritische Rekonstruktion" und | |
Rückkehr zur "europäischen Stadt" kehrten Blockrandbebauung, einheitliche | |
Traufhöhe und vorgeklebte Steinfassaden in die City zurück. Der Berliner | |
Mittelstand, vor allem Familien mit Kindern, zogen derweil in den | |
Brandenburger Speckgürtel um Berlin. Die fünf in Erwartung eines riesigen | |
Bevölkerungswachstums projektierten Entwicklungsprojekte - etwa an der | |
Havel in Spandau oder an der Rummelsburger Bucht der Spree waren | |
finanzielle Desaster. Nach dem Scheitern seiner Baupolitik sucht die | |
Politik des Berliner Senats ihr Heil nun in der Privatisierung des | |
öffentlichen Raums. Straßenland und Grünzonen werden verkauft. | |
Handtuchschmale, aber mehrgeschossige "Townhouses" in zentraler Lage gleich | |
neben dem Außenministerium sind derzeit der letzte Schrei für eine betuchte | |
Klientel. Und die kleinen Leute? Gerade hat der aktuelle Mietspiegel für | |
Berlin ergeben, dass es an kleinen und bezahlbaren Wohnungen in der | |
Hauptstadt mangelt. Besonders die Hartz-IV-Bezieher sind hierauf | |
angewiesen. | |
Die aktuelle Situation ist mit der Wohnungsnot in Berlin gegen Ende des 19. | |
Jahrhunderts natürlich nicht zu vergleichen. Damals lebten 90 Prozent der | |
Bevölkerung in vier- bis fünfgeschossigen Mietskasernen, fast die Hälfte | |
davon in Hinterhäusern, gerademal 10 Prozent der Mieter hatten ein eigenes | |
Bad. Die jetzt in einer Ausstellung im Bauhaus-Archiv gefeierten Siedlungen | |
der 20er-Jahre waren eine Reaktion auf das Ergebnis privater Bau- und | |
Bodenspekulation. Im Grunde zeigen sie genau den entgegengesetzten Weg, den | |
die Berliner Baupolitik derzeit einschlägt. Denn sozialer Wohnungsbau | |
findet hier nicht mehr statt. Noch läuft der Unesco-Antrag, aber der | |
Berliner Landeskonservator Jörg Haspel ist frohen Mutes, dass es spätestens | |
übernächstes Jahr so weit sein wird. Schon jetzt macht der Ausstellungsband | |
zu den sechs Beispielen des gemeinnützigen Siedlungsbaus die komplette | |
Bewerbung öffentlich und transparent. Bei den einzelnen Objekten handelt es | |
sich um die Gartenstadt Falkenberg, die Siedlungen Schillerpark, | |
Hufeisensiedlung (Britz) und "Weiße Stadt", die Wohnstadt Carl Legien sowie | |
die Ringsiedlung in Siemensstadt. | |
In Berlin sind keine großen Konflikte bei die Eintragung in die | |
Unesco-Liste zu erwarten. Eigentümer der Siedlungen, Mieter, | |
Landesdenkmalamt, die Senatsdienststellen und Fachleute sind sich im Grunde | |
einig: Berlins Siedlungen der 20er-Jahre sind spitze! Die besitzenden | |
Wohnungsgesellschaften und Genossenschaften schwärmen, wie gut sich die | |
inzwischen sanierten Wohnungen vermieten lassen, die Mieter fühlen sich | |
wohl und wohnen zum Teil schon seit Jahrzehnte in den Häusern. Auch die | |
denkmalpflegerischen Erhaltung und Pflege der seit Jahrzehnten unter Schutz | |
stehenden Siedlungen ist vorbildlich. Die Stadtpolitiker dürfen also auf | |
einen Prestigegewinn nicht nur für den Touristenstandort Berlin hoffen. | |
Auf den ersten Blick sieht also alles nach einer Win-win-Situation aus. Bei | |
näherem Hinsehen entdeckt man, dass das Störende außen vor gelassen wurde. | |
Berlins oberster Denkmalspfleger, Jörg Haspel, gibt etwa zu, dass es noch | |
andere Siedlungen gäbe, die eigentlich in der Auswahl gehörten. Die | |
Waldsiedlung des Architekten Bruno Taut in Zehlendorf fehlt zum Beispiel, | |
obwohl das Bewerbungskonzept gerade am Werk von Taut aufgefädelt ist. Die | |
Waldsiedlung (oder Onkel-Tom-Siedlung) sei aber zu wenig authentisch | |
erhalten. Schade, denn mit der zusätzlichen Einbeziehung der direkt | |
angrenzende Siedlung Am Fischtalgrund hätte man auch die konservative | |
Spielart des Siedlungsbaus mit beleuchten können. | |
Die Ausstellung, die auf Initiative des Landesdenkmalamts im | |
Bauhaus-Archivs zustande gekommen ist, ist trotzdem wichtig. Nicht so sehr, | |
weil sie ein Berliner Prestigeprojekt vorstellen könnte, sondern weil es | |
lohnt, an die Wohnreform der Moderne erinnert zu werden. Denn wie das | |
historische Beispiel der 20er-Jahre-Siedlungen im Bauhaus-Archiv zeigt, war | |
es trotz Wohnungsnot und ohne großes Eigenkapital einmal möglich, schöne, | |
besonnte und bezahlbare Wohnung bereitzustellen. Mit ihren alten und neuen | |
Fotos, Plänen, Perspektivzeichnungen, Modellen und Farbbeispielen von | |
Fassadenelementen bietet die Ausstellung ein anschauliches Bild | |
hauptsächlich von der Ästhetik der Bauten und deren denkmalgerechter | |
Konservierung. Die Ideen und Ideale von damals, aber auch die | |
seinerzeitigen Zwänge und gesetzlichen Bedingungen sind auf Hinweistafeln | |
zumindest angedeutet. | |
Die Älteste der ausgewählten Siedlungen, 1913 begonnen, liegt am Falkenberg | |
im Berliner Südosten und ist ein Genossenschaftsmodell. Die relativ kleine | |
Siedlung blieb wegen des Weltkriegs Fragment. Bis 1916 entstand eine am | |
englischen Gartenstadtmodell angelehnte Bebauung, die noch an gewachsene | |
kleinstädtische Strukturen erinnert. Wichtig war der eigene Garten, auch | |
zur Selbstversorgung der Bewohner. Äußerlich bildete die Siedlung ein | |
buntes Bild. Architekt Taut ließ die Fassaden mit intensiven Farben | |
bemalen, die zum Spitznamen "Tuschkastensiedlung" führten. Das Bunte wurde | |
zur identitätsstiftenden Eigenart der Siedlung. Die zu Ehren der | |
Architekten aus farblich unterschiedlichen Stoffflicken 1919 angefertigte | |
"Tautfahne", die bei Festen wie in einer Prozession mitgeführt wurde, zeugt | |
in der Ausstellung davon, dass die Reformidee einer Wohn- und | |
Lebensgemeinschaft aufgegangen war. Die Homogenität in der Bewohner, | |
hauptsächlich Lehrerfamilien, wurde allerdings durch strenge Regeln | |
gesichert. Alleinstehende wurden nicht geduldet. | |
Bruno Tauts berühmte Hufeisensiedlung auf dem ehemaligen Gut Britz geht als | |
Großform einen städtebaulichen Schritt weiter. Die Fliegeraufnahmen des in | |
der Ausstellung laufenden historischen Films aus den 20er-Jahren machen die | |
namensgebende Gestalt der mehr als 1.000 Wohnungen aus der Luft erst | |
erkennbar. Die zum Hufeisen um einen eiszeitlichen Teich gebogene | |
Häuserzeile ist natürlich auch eine Symbolfigur des Glücks. Hinter dem | |
Hufeisen gibt es sowohl Reihenhäuser mit Mietergärten als auch einen | |
trapezförmigen Straßenraum mit Dorflinde in der Mitte, der noch an die | |
Gartenstadt Falkenberg erinnert, ebenso wie die kräftigen Farbgebung der | |
Siedlung, die die ansonsten schlichte und sachliche Architektur | |
akzentuiert. | |
In der nach dem Gewerkschaftler Carl Legien benannten "Wohnstadt" gelang es | |
Bruno Taut kurz bevor die Notverordnungen des Kabinetts Brüning ab 1930 die | |
Förderung von gemeinnützig-gewerkschaftlichen Wohnprojekten kappten, einen | |
reformiertes Wohnen auch im verdichteten, innerstädtischen | |
Massenwohnungsbau vorzuführen. Das zur Kaiserzeit festgelegte Straßenraster | |
musste beibehalten werden, die an einer Seite offenen Blöcke darin drehen | |
das Stadtbauprinzip des 19. Jahrhunderts allerdings auf den Kopf. Der | |
begrünte Hof wird Mittelpunkt, an dem die Wohnräume sich orientieren, Küche | |
und Bad liegen zur schmalen Straße. | |
Die Einbeziehung der Grünanlagen ist ein wesentliches Spezifikum der | |
Siedlungen. Die in Zeilen aufgelöste Bebauung der wegen ihre hellen | |
Verputzes "Weiße Stadt" genannten Siedlung in Berlin-Reinickendorf zeigt, | |
dass der begrünte und öffentliche Zwischenraum zum integraler Bestandteil | |
des Raumgefüges geworden war. Zwar gibt es bei dem bis 1931 umgesetzten | |
städtebaulichen Entwurf von Otto Rudolf Salvisberg traditionelle Motive wie | |
Torhäuser oder eine zentrale Achse, aber das durchgrünte, | |
funktionalistische Zeilensystem in Nord-Süd-Orientierung steht Vordergrund: | |
Schlafen nach Osten, Wohnen nach Westen, um die Abendsonne zu genießen. | |
Auch in der von 1929-31 erbauten Siemensstadt wird die Großzeile als Typus | |
streng durchgehalten, allerdings individuell interpretiert durch sechs | |
verschiedene Architekten, darunter Walter Gropius und Hans Scharoun. Die | |
Zeilen von Hugo Häring mit ihren nierenförmigen Balkonen sind besonderes | |
auffällig, gehorchen der Form nach aber dem Platzbedarf einer vierköpfigen | |
Familie: Ein Tisch mit drei Stühlen und eine Liege für die gestresste | |
Hausfrau sollten hier Platz finden. Siemensstadt ist auch sonst ein gutes | |
Beispiel für den normierten, standardisierten und typisierten Städtebau, | |
der nicht nur die Bauproduktion beschleunigen und verbilligen sollte, | |
sondern auch den Grundrisse an die Größe der Möbel anpasste: Die minimale | |
Länge eines Zimmers in den kleinen Wohnungen bot Platz für zwei | |
hintereinander aufgestellte Betten. | |
Natürlich hat die Präsentation der Unesco-Kandidaten im Bauhaus-Archiv | |
einen eher akklamatorischen Charakter. Dennoch zeigen die vorgestellten | |
Siedlungen "beispielhaft den Wertewandel im europäischen Wohnungsbau, da | |
sie als Ausdruck einer breiten Wohnreformbewegung entscheidend zur | |
Verbesserung der Wohn- und Lebensverhältnisse in Berlin beigetragen haben", | |
so die Begründung im Antrag für die Unesco. | |
Ein menschenwürdiges und glückliches Leben für alle war das Ziel der | |
Reformbewegung. Dass dieses Ideal unter den jeweiligen herrschenden | |
Bedingungen neu formuliert werden muss, diese Erkenntnis gilt nach wie vor. | |
Im Grunde stellen sich heute wie damals die gleiche Fragen: Wie wollen wir | |
leben? Und: Wie lässt man uns wohnen? | |
27 Jul 2007 | |
## AUTOREN | |
Ronald Berg | |
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Architektur | |
Unesco-Welterbe | |
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